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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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auf das Dach. Tankred, zerzaust, heulend und jammernd, schob sich durch die Öffnung wie ein Wurm bei Regen aus einem Erdloch. Er kam auf die Füße und stürzte auf Anna und den Wagen zu. Sie machte sich ganz klein und schützte Bär mit ihrem Körper, bereit, sich mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen.
Der Korbflechter beachtete sie gar nicht. Er langte an ihr vorbei nach einer umflochtenen Flasche mit kurzem Hals, die Anna für einen Korb gehalten hatte. Schon war der Spuk vorbei. Doch Tankred kehrte nicht zum Zelt zurück. Anna lugte um das Verdeck herum und sah, dass Tankred sich neben den glühenden Resten des Feuers niedergelassen hatte. Mit einem Ruck zog er den Stopfen aus der Flasche und setzte sie an den Hals. Eine Weile waren nur sein Glucksen und Schniefen zu hören.
Anna war seltsam enttäuscht, ihren Gastgeber trinken zu sehen. Sie schnaubte verächtlich. Am liebsten hätte sie ihre Bündel ergriffen und sich mit Bär auf und davon gemacht. Denn in Kürze wäre dieser Tankred nicht mehr der fürsorgliche Reisebegleiter, sondern nur noch ein lallender Trunkenbold. Trotzdem blieb Anna, wo sie war, den Stock fest umklammert.
Sie wusste nicht, wie lange sie so ausgeharrt hatte. Ihre Lider wurden schwer, und die Anspannung ließ nach. Sie musste etwas unternehmen, oder sie würde auf der Stelle wieder einschlafen. Also schob sie die Decke zurück und erschauerte, als die kalte Nachtluft nach ihr griff. So leise wie möglich kletterte sie von der Ladefläche, den Stock in der Hand, und lugte hinter der Plane hervor.
Tankred hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber der Nähkorb stand neben ihm. Dutzende von Wäschestücken lagen ringsum verstreut. Und er hockte inmitten der Laken, Hemden und Leintücher und heulte Rotz und Wasser. Anna wurde ganz weh ums Herz – der Mann sah nicht so aus, als wolle er jemandem etwas antun. Leise trat sie zwei, drei Schritte auf ihn zu, unschlüssig, wie sie sich diesem Fremden gegenüber verhalten sollte, dessen Schmerz dem ihren so ähnlich schien. Tankred musste sie bemerkt haben, denn er sprach, ohne sie anzusehen.
„Traute war ihr Name, und sie war ein Weib, wie Gott es vollkommener nicht hätte erschaffen können. Immer fröhlich, nie warf sie mir vor, es sei zu wenig Geld da, als wir noch kaum etwas hatten, am Anfang. Und fleißig war sie, nie ruhten ihre Hände.“
Er deutete auf die Wäschestücke. „Am Feuer saß sie, so wie du zur Nacht, und nähte. Und wenn sie nicht nähte, hielten ihre Hände die Spindel. Und ich … ich dankte ihr kein einziges Mal.” Er rülpste und setzte die Flasche noch einmal an, doch Anna machte das nichts mehr aus. Diese Stimmung kannte sie von Wulf, nur in diesem Zustand hatte er jemals von ihrer Mutter gesprochen.
    “Feine, weiche Hände hatte sie …“
    Anna traute sich noch weiter vor, ja, es drängte sie geradezu, ihm nahe zu sein.
„Wie ist sie gestorben?“
Tankred schluchzte auf und drückte das Gesicht in ein leinenes Hemd, bevor er weitersprechen konnte.
„Woher weißt du, dass sie tot ist?“, schniefte er.
„Ich habe auch einen lieben Menschen verloren“, antwortete sie.
Der Korbflechter musterte das junge Mädchen, sein Blick war glasig, aber nicht verwirrt. Dann starrte er auf die Flasche, hob sie an und wog sie in der Hand. Schließlich hielt er sie ihr hin.
„Im Kindbett, das Kleine auch. Willst du?“
Sie schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus. „Gib mir die Wäsche, Korbflechter! Traute hätte sicher nicht gewollt, dass alles schmutzig wird.“
„Nein, das hätte sie nicht gewollt.“
Er schniefte noch einmal, stellte die Flasche ab und reichte Anna ohne Widerspruch ein Stück nach dem anderen. Sie faltete alles ordentlich zusammen und legte den Stapel in den Korb.
Als Anna schon längst wieder neben Bär auf dem Fell lag, hörte sie immer noch Tankreds unterdrücktes Schluchzen. Sie war froh darüber. Ihr eigener Schmerz um Marie hatte sich so tief in ihrer Seele festgesetzt, dass sie nicht weinen konnte. Es schien fast, als mache ihr Tankred den Abschied von der Freundin ein wenig leichter, indem er für sie mittrauerte.
Bersenbrück
     
    Ein fremdartiges Geräusch drang ihr ans Ohr. Anna schlug die Augen auf und blickte verwirrt zur Decke. Statt morscher Balken in dämmriger Kammer, die sie während der letzten Jahre jeden Morgen begrüßt hatten, herrschte hier Helligkeit, und fröhlich wirkende Trauben von allerlei Körben und geflochtenem Gerät hingen vom Wagenverdeck

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