Die Gewandschneiderin (German Edition)
herunter. Für einen Augenblick war Anna nicht sicher, ob sie noch der letzte Traum der Nacht verfolgte oder ob sie wirklich etwas gehört hatte. Da, schon wieder. Inzwischen war sie sicher - das Geräusch kam von draußen. Anna streifte den Umhang von Körper, damit sie sich aufsetzen konnte. Wie schade, dass sie aufstehen musste! Das Fell hatte sie angenehm gewärmt. Auch Bär war wach geworden. Er gähnte und streckte die Beinchen. Er war wirklich rührend, sie lachte leise auf - und hielt erschrocken inne, als sie die eigene Stimme wahrnahm. Wie konnte sie nur? Keine zwei Tage waren seit Maries Tod vergangen, und sie saß auf einem warmen Fell und lachte.
Anna nahm ihre Habseligkeiten, setzte den Hund an die Kante der Ladefläche und sprang vom Wagen hinunter. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, es war also noch recht früh. Von Tankred war weit und breit nichts zu sehen. Das Schlafgestell lagerte in seinen Einzelteilen neben dem Feuer, das munter unter dem Kessel flackerte. Wie tief musste sie geschlafen haben, dass sie den Lärm der Morgenarbeiten überhört hatte! Sie zuckte zusammen. Da war das Geräusch wieder, ein Sausen und Schwirren, doch dann brach es jäh ab. Sie lauschte noch immer, als Bär plötzlich losrannte, am Wagen entlangsprang - und gegen die Beine des Korbflechters prallte, der mit einem Arm voller Weidenzweige um die Deichsel herumkam. Bär fiel auf den Rücken und fiepte erschrocken. Tankred schmunzelte, im einen Arm die Äste, in der freien Hand einen einzelnen Zweig, doch Anna verzog keine Miene.
„Morgen. Gut geschlafen?“, fragte der Korbflechter.
„Guten Morgen“, erwiderte Anna. „Was war das für ein Geräusch?“
Tankred wusste sofort, was sie meinte. Er hob den Arm und ließ einen der Zweige mit Schwung durch die Luft sausen.
„Meinst du das? Ich prüfe, wie biegsam die Weidenruten sind. Es eignen sich längst nicht alle zum Flechten. Meine Körbe halten ewig, weil ich nur die besten Zweige verwende.“
Er steckte die Zweige hochkant in ein bereitstehendes Fass, ging in die Knie, umschlang das Fass mit den Armen und wuchtete es auf die Ladefläche.
„Kannst du Wasser holen, da unten?“
„Sicher.“ Anna schämte sich - sie hätte längst von sich aus ihre Hilfe anbieten sollen. Stattdessen stand sie herum und hielt Maulaffen feil. Schnell nahm sie die Eimer und tastete sich die Böschung zu dem Flüsschen hinab, das sie am Abend zuvor nicht bemerkt hatte.
Sie raffte die Röcke, kniete am Ufer nieder und tauchte die Eimer in die Strömung. Wie ruhig und friedlich es hier war! In Oldenburg hatten sich morgens um diese Zeit schon alle angekeift. Weiche weiße Nebelstreifen lagen über dem Wasser wie der feine Tüllstoff, den Anna einmal bei Orttraut hatte ansehen, aber nicht anfassen dürfen. Die ersten Vogellaute schwirrten durch den frühen Tag, und ein Hase schlug seine Haken im Gras. Sein Anblick erinnerte Anna daran, wie hungrig sie war. Rasch erhob sie sich, ergriff die Wassereimer und erklomm die steile Böschung. Ob noch Suppe vom Nachtmahl übrig war? Vielleicht gab Tankred ihr etwas davon ab. Tatsächlich stand Tankred am Feuer und rührte im Kessel.
„Kipp sie in das Fass auf dem Wagen.“
Anna starrte ihn verständnislos an.
„Die Eimer. Die Zweige müssen eingeweicht werden, sonst lassen sie sich nicht flechten.“
„Oh.“ Mehr brachte Anna nicht über die Lippen und tat, wie ihr geheißen. Gewiss hielt er sie für beschränkt, aber er ließ sich nichts anmerken. Als sie wieder an das kleine Feuer trat, hielt er ihr eine randvolle Schüssel mit Suppe und einen dicken Brotkanten hin.
„Iss erst einmal tüchtig! Mittags rasten wir nicht, und wer weiß, wann du wieder etwas bekommst. Oder soll ich alles auf den Boden stellen?“ Er sah ihr nicht in die Augen - schämte er sich für seine nächtlichen Tränen?
Anna schüttelte den Kopf, ging auf Tankred zu und nahm ihm die Schüssel aus der Hand. Im hellen Licht des Morgens wusste sie nicht mehr, warum sie solche Angst vor ihm gehabt hatte.
Es kam Anna so vor, als rumpel e der Wagen schon ihr halbes Leben lang über holprige Wege. Jeder Stoß rüttelte sie bis auf die Knochen durch. Sie musterte Tankred von der Seite, er wirkte völlig entspannt und gelassen. Allerdings war er das Geschaukel auch gewohnt. Sie hatten Oldenburg mittlerweile weit hinter sich gelassen, und das gefiel ihr gut. Aber allmählich musste sie sich überlegen, wohin sie eigentlich wollte. Sie seufzte.
„Was ist?“,
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