Die Gewandschneiderin (German Edition)
die Kälte durch Mark und Bein. Meist half es, wenn sie auf und ab sprang und sich die klammen Glieder rieb. Aber in Gegenwart des fremden Mannes schien ihr das nicht ratsam.
Nach dem Essen wischte sie die leere Schale mit Gras und Erde aus, wie sie es von den Reisen mit ihrem Vater gewöhnt war. Tankred beobachtete sie und deutete auf das saubere Essgeschirr. „Du bist schon öfter verreist, wie?“
Anna nickte stumm.
„Ich hau mich hin, war ein anstrengender Tag.“
Er ging zum Wagen und verschwand dahinter. Offenbar kramte er auf der Ladefläche herum, denn nach und nach kamen ein langes Brett, zwei kürzere Bretter, eine große Wachsplane und einige Felle zum Vorschein. Auf dem Wiesenstreifen am Wegesrand stellte er die kürzeren Bretter aufrecht zu einem Kreuz zusammen. Dann hängte er das lange Brett, das eine Vertiefung aufwies, in das Kreuz und stellte das andere Ende des langen Brettes quer auf den Boden. Mit einer Geschicklichkeit, die lange Übung bewies, wuchtete Tankred die Plane auf den Holm, entfaltete sie und zog sie über das hölzerne Dreibein. Die beiden Kreuzhölzer bildeten nun die Form eines spitzen Kirchturmes und erinnerten an eine Höhle. Anna hatte so etwas schon gesehen. Sie und ihr Vater waren zwar immer zu Fuß unterwegs gewesen, aber die fahrenden Händler, deren Wagen von Waren überquollen, hatten fast alle solche Schlafstätten dabei gehabt. Mit raschen Handgriffen legte Tankred Felle in seine Schlafstätte, und Anna erschauerte wohlig bei dem Gedanken, wie angenehm warm und windgeschützt es in der Höhle sein mochte. Fast erwartete sie, dass Tankred sie aufforderte, neben ihm zu nächtigen. Sie hätte natürlich Nein gesagt, aber die Aussicht wäre verlockend gewesen. Der Korbflechter indes klappte nun die seitlich überhängenden Lappen nach vorn, sodass die Höhle ganz geschlossen war, und ging erneut zum Wagen. Es knarrte und scharrte, rumpelte und quietschte, dann herrschte Stille.
Plötzlich stand der Korbflechter wieder so dicht vor ihr, dass sie zusammenzuckte.
„Schlaf du im Wagen. Kann mir nicht vorstellen, dass du zu mir herein willst.“
„Danke.“
Mehr sagte sie nicht, stand auf, zog Bär mit sich und begutachtete die Ladefläche des Wagens. Von den Bodenbrettern bis zur hölzernen Decke hinauf türmten sich die Waren des fahrenden Handwerkers. Dafür hatte er im vorderen Bereich einen freien Platz geschaffen, der die Breite eines Schlaflagers aufwies. Sogar ein großes Fell lag dort ausgebreitet. Anna hob Bär auf den Wagen. Müde kuschelte er sich auf die weiche Unterlage und schloss die Augen. Nachdem sie ihre Bündel am Fußende abgelegt hatte, machte es sich auch Anna mit ihrem Umhang und dem Fell bequem, den Blick achtsam nach draußen gerichtet.
Tankred räumte die Schalen unter den Wagen und rückte die Scheite auseinander, damit das Feuer langsam ausbrennen konnte; den Kessel ließ er einfach hängen. Er warf noch einen letzten Blick in die Runde.
„Gute Nacht.“
„Gute Nacht“ , antwortete Anna.
Erst als Tankred in seiner sorgsam errichteten Höhle verschwunden war, erlaubte sich Anna, die Gedanken schweifen zu lassen.
War von Tankred Gefahr zu erwarten? Zu ihrer Überraschung hatte er keinen Tropfen Schnaps getrunken. Eigentlich war sie überzeugt davon, dass alle Männer außer ihrem Vater soffen wie die Löcher. Sei´s drum, sie würde den Mann im Auge behalten. Warm war es hier auf dem Fell. Sie streckte den schmerzenden Rücken. Zu Fuß ging es zwar nur langsam voran, aber das Gerumpel auf dem Wagen war ein hoher Preis für das schnellere Vorwärtskommen. Anna gähnte, schmiegte sich dichter an den warmen Leib des Hündchens und schlief ein.
Erst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Sie tastete neben sich - Bär lag immer noch zusammengerollt neben ihr und verbreitete wohlige Wärme. Den Umhang fröstelnd bis zum Hals hochgezogen, setzte sie sich auf. Da! Schon wieder. Durch die nächtliche Stille drang ein Wimmern und Klagen wie von einem Geist, der um Erlösung fleht. Anna schluckte. Sie hatte keine Erfahrung mit solchen Gestalten. Wulf hatte ihr immer versichert, sie müsse keine Angst vor Geistern haben, und sie hatte ihm geglaubt. Aber das war schon unendlich lange her, und auf dem warmen Lager, Seite an Seite mit dem Vater, war es einfach gewesen, mutig zu sein. Sie beschloss, erst einmal nichts zu tun und abzuwarten, als ihr fast der Herzschlag stockte.
Die Einstiegsplane der Wohnhöhle wurde hochgeworfen und klatschte
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