Die Gewandschneiderin (German Edition)
Nacht gewesen. Trotz der milden Witterung hatte sie gezittert, ob vor Kälte oder Angst, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Die Sonne war noch nicht um die Kirche herumgewandert. Gras, Büsche und Blätter, alles war voller Tau. Sie strich sich die Feuchtigkeit von den Ärmeln und vom Rock und stand auf. Eng ans Mauerwerk gepresst, versuchte sie abzuwägen, wie wahrscheinlich es war, Heinz hier zu begegnen. Würde er auf dem Markt nach ihr suchen? Der Hunger biss sich in ihren Eingeweiden fest wie eine Ratte. Ein wenig Geld hatte sie - warum nicht einen Apfel und Brot kaufen? Sie musste einfach achtsam sein, dann würde sie den Häschern nicht in die Arme laufen.
Scheinbar gelassen schlenderte sie auf den ersten Marktstand zu und sah sich dabei unauffällig nach allen Seiten um. Erst als sie sicher war, dass Heinz nicht unter den wenigen frühen Besuchern zu finden war, wagte sich Anna dem Stand auf Rufweite zu nähern. Die Händlerin, die sie mit ihren Anpreisungen geweckt hatte, hielt erst inne, als Anna dicht vor ihr stand.
"Äpfel? Zwiebeln oder Rübchen?" , fragte sie, das wettergegerbte Gesicht mit dem grauen Kopftuch schief gelegt wie ein Rabe, der auf die Saat erpicht ist.
"Zwei Äpfel. Hast du auch Brot?" , fragte Anna.
Das Gesicht der Frau schien nur aus Runzeln zu bestehen, und die Hände waren voller Flecken, aber ihre Blicke waren wach und ihre Bewegungen schnell.
"Sicher, sicher." Die Alte zog einen Laib aus einem Korb, hielt ihn aber mit einer Hand fest und streckte Anna die andere offen hin. "Zwei Pfennige."
Anna fuhr empört auf. Fanny hatte ihr erzählt, dass in der Stadt alles teuer sei, aber gleich so über alle Maßen?
"Gute Frau, ich gebe dir einen. Ich will ja nur ein Brot und zwei Äpfel, nicht den ganzen Korb." Sie kramte einen Pfennig hervor und hielt ihn der Händlerin hin; in der anderen wog sie unauffällig ihren Beutel. Er war leicht, erschreckend leicht.
Sie spähte erneut auf dem Marktplatz umher. Es war noch früh, und ohne das übliche Gedränge ließ er sich gut überblicken. Nichts zu sehen. Trotzdem musste sie so schnell wie möglich das Weite suchen, aber mit den paar Pfennigen kam sie nicht aus der Stadt hinaus. Sie musste irgendwo Unterschlupf und ein Auskommen finden.
Die Frau hatte ihre Kundin nicht aus den Augen gelassen und blickte sich um, als sähe sie den Markt plötzlich zum ersten Mal.
"Hm." Die Händlerin klaubte den Pfennig aus Annas Hand und reichte ihr das Brot. "Nimm. Aber erzähl´s nicht weiter, hörst du?"
Anna nickte. Das Brot roch wunderbar, sie hätte am liebsten gleich hineingebissen, aber sie musste erst noch etwas fragen.
"Gute Frau …"
D ie Alte unterbrach sie. "Hannah, Mädchen, Hannah!"
"Also ja, Hannah … Kennst du jemanden, der eine Näherin sucht?"
"Machst du Scherze?" Hannah rückte ihr Kopftuch gerade , und ihre Miene nahm einen argwöhnischen, fast bösartigen Ausdruck an.
"Ich wollte dich mit der Frage nicht in Verlegenheit bringen. Mein Geld geht zur Neige, und Nähen ist das Einzige, was ich ..."
Hannah unterbrach sie schon wieder. "Du meinst es ernst, oder? Dummchen! In diesen Tagen findet eine flinke Nadel allemal einen Herrn. Jeder, der was auf sich hält, lässt sich bis zum Sommer ein neues Wams und der Frau ein feines Gewand nähen und scharwenzelt dann in Worms um den Kaiser herum. Sogar Meister Spierl sucht Näherinnen." Die Frau drückte den Rücken durch, und der mächtige Busen schien noch üppiger zu werden. "Mein Sohn, der Jan, der geht bei ihm in die Lehre."
Anna schü ttelte verwirrt den Kopf. "Heißt das nun Ja?"
"Das heiß t es wohl. Jeder, der eine Nadel halten kann, verdient sich was dazu." Die Frau kratzte sich unter dem Kopftuch. "Wie gut bist du?", fragte sie.
"Schnell und sauber. Und ich mache kleine Stiche. Schau, das Kleid habe ich auch genäht." Sie ergriff den Rock beim Saum und hielt ihn der Händlerin entgegen.
Die Finger der Alten waren genau wie das Gesicht. Ledrig braun und faltig, betasteten sie den glänzenden blauen Stoff. "Feines Tuch! Warum musst du dich denn verdingen?"
Anna zögerte.
Hannah ließ den Rock los. "Na, mir soll’s einerlei sein. Nähen kannst du jedenfalls, das seh ich wohl. Versuch es doch beim Spierl."
Anna war es unwohl bei dem Gedanken, für einen Mann zu arbeiten. Hatte sie nicht gerade ers t gelobt, sich von Männern fernzuhalten? Sie musste mehr herausfinden.
"Dieser Spier l, ist er ein guter Schneider?"
Hannah wandte sich um und glotzte Anna mit weit
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