Die Gewandschneiderin (German Edition)
nach oben weisen sah, wurde ihr bewusst, dass Heinz’ Stimme anders geklungen hätte. Trotzdem sah sie sich nach allen Seiten um, bevor sie sich dem Haus erneut zuwandte. Wo sollte sie klopfen? Es half nichts, sie musste rufen.
"Meister Spierl !"
Anna merkte selbst , wie dünn und leise ihre Stimme klang, doch was, wenn ein anderer als Spierl sie hörte? Närrin!, schalt sie sich. Wenn du noch länger hier herumstehst, wirst du mit Sicherheit irgendwann entdeckt.
Sie fasste sich ein Herz . "Meister Spierl!", rief sie laut.
Einige Augenblicke lang geschah nichts, und sie rang mit sich. Sollte sie sich noch einmal bemerkbar machen? Sie durfte es nicht. Man konnte sie weithin hören, und Heinz kannte ihre Stimme sicher so gut wie sie die seine. Endlich schwang die kleine grüne Tür neben der Treppe knarrend auf, und Anna seufzte erleichtert. Ein Kopf, an dessen Seiten das kurze weiße Haar wirr in alle Richtungen abstand, schob sich aus der dunklen Öffnung hervor. Anna konnte sich nicht entscheiden, ob der Kopf einem Mann oder einem Weib gehörte. Sollte das der berühmte Schneider sein?
"Meister Spierl?"
Ohne ein Wort zog sich der Kopf zurück, und die Tür knallte zu. Das Haus sah wieder so abweisend aus wie zuvor. Hannah hatte sie gewarnt, der Mann sei seltsam. Dass er sie allerdings nicht einmal anhörte, darauf war Anna nicht gefasst gewesen. Sie traute sich nicht, noch einmal zu rufen, ließ die Schultern hängen und wollte schon gehen.
Da knarrte die Tür ein zweites Mal. Anna wandte sich um - die Tür stand wieder offen. Ein anderer Kopf, ebenfalls weiß behaart, aber eindeutig männlich, lugte aus der Öffnung hervor. Annas Herz raste. Vielleicht war dies der Meister?
Die Stimme hingegen klang seltsam hoch. "Was gibt’s?"
"Meister Spierl?"
"Natürlich Meister Spierl, wen hast du erwartet in meinem Haus, du dummes Ding?"
Es war Anna gleichgültig, ob er freundlich oder unfreundlich war. Spierl brauchte Näherinnen, und er war Gewandschneider. Sie war so dicht vor dem Ziel ...
"Bitte , Meister, stellt mich als Näherin ein! Ich bin fleißig - und sauber." Sie sandte ihren schmeichelndsten Blick nach oben. Selbst den Wunsch, sich umzusehen, unterdrückte sie - wenn sie den Meister aus den Augen ließ, schlug er vielleicht die Tür wieder zu. Der Kopf des Alten zuckte hin und her und legte sich dann zur Seite.
"Komm nächste Woche wieder. Ich denke darüber nach." Er wandte sich ab.
"Nein!" Anna hatte gellend laut gerufen, aber das war ihr gleich. Sie konnte nicht warten, sie brauchte eine Anstellung, und zwar sofort. Der Kopf wandte sich ihr zu.
"Bitte - ich brauche Arbeit, gleich. Ich bin gut. Seht her - dieses Kleid habe ich selbst genäht!"
Es war ein erbärmlicher Versuch . Anna wusste, dass der Mann von dort oben kaum die feinen Stiche erkennen konnte, auf die sie so stolz war.
"Dann bist du nächste Woche auch nicht schlechter. Heute habe ich keine Zeit für so etwas." Doch statt die Tür endgültig zuzuschlagen, lehnte er sich vor und starrte auf das Kleid.
Meister Spierl
Annas Brust krampfte sich zusammen und machte ihr das Atmen schwer. Sie musste diese Arbeitsstelle bekommen! Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie vor einem richtigen Gewandschneider, er konnte, er durfte sie nicht wieder wegschicken. Hannah hatte vorausgesagt, dass es nicht einfach mit ihm würde. Anna erinnerte sich an das morgendliche Gespräch mit der Händlerin. Die Rübe!
"Hannah vom Markt hat mich empfohlen. Ich soll Euch d ies geben, als Beweis für die Empfehlung." Sie hielt die Rübe hoch.
Unschlüssig betrachtet der Meister abwechselnd die Rübe und Annas Kleid. Schließlich schob er den spindeldürren Leib ganz durch die Tür und griff nach der Kette für die Treppe. Trotz des Umlenkeisens fuhr ein Ruck durch die schmächtige Gestalt, als das Gewicht der Treppe auf die Kette sprang.
So etwas hatte Anna noch nicht zu Gesicht bekommen. Zwei hölzerne Wangen, ähnlich einer durchgeschnittenen Leiter, waren in der Mitte durch eine Stange verbunden, an deren Enden je ein Seil befestigt war. Die beiden Seile liefen zu einer Kette. Mit jedem Nachlassen der Kette spreizten sich die Hälften über ihrem Kopf mehr, bis schließlich eine schräg an die Hauswand gelehnte Leiter daraus geworden war.
Spierls Ächzen wurde rhythmisch vom Rattern der Kette übertönt, und mehr als einmal drohte er kopfüber aus der Luke zu stürzen. Als die Treppe endlich auf dem Pflaster aufgesetzt hatte, zerrte er ein Tuch
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