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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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turmbewehrt, ragte in den tintenschwarzen Nachthimmel auf. Sie wusste sofort, worum es sich handelte. Ihr Vater hatte oft davon geschwärmt. So wie sie Gewänder schneidern wollte, hatte er davon geträumt, Baumeister eines Domes zu werden.
    Und nun stand sie hier im Dunkeln, gejagt und verlassen, und erblickte mit eigenen Augen einen Dom. In Köln sollte die alte Domkirche auch durch ein solch großes Gotteshaus ersetzt werden, aber sie hatte nicht einmal die alte Domstätte zu Gesicht bekommen. Langsam, die Blicke unverwandt auf das erhabene Gebäude gerichtet, trat sie näher. Helle Steine, kleine und wahrhaft große Quader, wechselten sich im Mauerwerk ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und spähte zum Turm hinauf. Ihr schwindelte. Diese Kirche reichte bis zu den Wolken, die vor dem Mond über den nächtlichen Himmel jagten, und war sicher für die Ewigkeit gebaut. Erst als Anna der Nacken schmerzte, wurde sie sich der Gefahr, in der sie schwebte, wieder bewusst. Sie fuhr zusammen und eilte um die Wölbungen und geraden Mauern des Domes herum, bis sie zum Seitenschiff gelangte. Hier, im Schatten der Bäume, war es noch dunkler als auf dem Domplatz. Die Fassade bildete eine schwarze Wand, aber Anna war das nur recht. Wenn sie nichts sah, sähe man sie auch nicht. Hier war sie sicher. In einem Mauerwinkel ließ sie sich auf den Boden gleiten und zog den Rock enger um die Beine. Mit dem Rücken an den kalten Steinen, die Arme um die Knie geschlungen, versuchte sie zu schlafen, doch die trüben Gedanken ließen sie nicht los. Eine Frage lauerte schon sprungbereit in ihrem Innern, seit ihr Ehemann sie in den Verschlag gesperrt hatte. Jetzt, da sie Heinz fürs Erste entkommen war, tauchte sie wieder auf: Was würde mit Bär geschehen?
    So gründlich sie auch nachgrübelte, Anna fand keine Lösung. Bis sie zu Fuß zurück in Köln wäre, hätte Heinz den Hund längst weggegeben. Die paar Haushaltspfennige in ihrem Beutel hatte Fanny ihr beim gemeinsamen Marktgang zugesteckt, damit die Hausherrin, wie sie sie nannte, ihre Magd nicht um Geld für eine Pastete angehen musste. Doch für eine Wagenfahrt reichte das Geld nicht. Anna hatte gesehen, wie Heinz den Fahrer entlohnt hatte. Vielleicht sollte sie sich ihrem Mann stellen? Ihr schauderte. Wütend, wie er war, würde er sie verhaften lassen und den Hund töten. Was immer sie tat, Heinz hasste den Hund, er würde seine Wut an ihm auslassen. Sie war eine schlechte Hundeherrin. Und vielleicht hatte Heinz recht - vielleicht war sie einfach ein schlechter Mensch. Bär würde sterben. Ihr Vater war tot, Johann war tot, selbst die unschuldige kleine Marie war tot. Anna schossen Tränen in die Augen. Der Sternenhimmel blickte auf sie herab und schien sie zu verhöhnen. Gott selbst schien sie zu verhöhnen. Sie hatte es nicht besser verdient. Sie entzog sich seinem Urteil und saß jetzt hier, vor einem der größten und schönsten Bauwerke der Welt, auf das er gewiss wohlgefällig sein Auge richtete, wie ein Ungeziefer, das über ein frisch genähtes Laken kroch. Anna erhob sich, taumelte, stützte sich ab und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Entschlossen setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie würde sich stellen, sollte Gott zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Er wollte, dass sie starb? Gut, dann sollte es so sein. Sie musste im Feuer sterben? Wenn er dieses Schicksal für sie erwählt hatte …
    Der Gedanke an das Feuer machte ihr Angst, und wie von selbst stieg ein Gebet aus ihrem wunden Herzen auf: Lieber Gott, wenn du nicht willst, dass ich mich stelle, wenn du mich leben lassen willst, dann gib mir ein Zeichen! Ich werde mich auch von allen fernhalten, denen ich schaden könnte - besonders von Männern. Soll ich wirklich sterben? Gib mir ein Zeichen, ob ich leben darf!
    Sie war schon an der kleine ren Kirche vorbei und näherte sich wieder dem Markt. Gerade als sie mit der Hand das glatt behauene große Kreuz berührte, begannen die lautesten Glocken zu läuten, die sie je gehört hatte. Das Zeichen! Wie befreit eilte Anna in den Schatten der Kirche. Sie kehrte nicht zum Dom zurück, sie war seiner nicht würdig. Aber hier, an den Mauern dieser Kirche, konnte sie Gott nahe sein und ihm auf Knien für sein Zeichen danken.
     
    "Lageräpfel, glatt und rund! Zwiebeln, feine Rüben, Lageräpfel, ganz ohne Würmer! Zwiebeln, feine Rüben ..."
    Markt geschrei weckte Anna aus dem leichten Schlaf, in den sie gegen Morgen gesunken war. Es war eine unruhige

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