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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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dass sie seiner Mutter Unglück gebracht hatte. Aber selbst als Martha sie so schlecht behandelt hatte, hatte Anna ihr nichts Böses gewünscht. Sie nahm den Umhang aus dem Beutel. Herrje, der hing ja halb in Fetzen! Wo war Heinz denn damit hängen geblieben? Mit dem Flicken wäre sie einige Stunden lang beschäftigt. Sie schätzte die Fadenlänge und biss das Garn ab. Sollte sie noch einmal das Gespräch mit ihm suchen? Aber würde das helfen? In der Kammer nebenan rumpelte es. Ob ihre Nachbarn auch so unglücklich waren wie sie? Oje, der Riss verlief sogar über die Hauptnaht! Anna stieß die Nadel durch die dicken Stofflagen auf Höhe der Naht und stach sich mit voller Wucht in den linken Zeigefinger. "Au!" Es war auch schwierig mit der falschen Hand. Vielleicht sollte sie die Linke gebrauchen? Wer konnte sie dabei schon beobachten? Heinz war unterwegs, und wenn er zurückkam, waren seine Schritte auf den alten Dielen sicherlich weithin zu hören. Sie saugte das Blut vom Zeigefinger und nahm die Nadel in die Linke. Sie hatte erst einige Stiche genäht, als es im Nebenzimmer abermals polterte, diesmal so laut, dass sie zusammenzuckte. Dröhnende Schritte wurden laut, unmittelbar vor der Tür. So schnell, dass Anna die Näharbeit nicht mehr aus der Hand legen konnte, sprang die Tür auf. Heinz stand auf der Schwelle, das Haar zerzaust, die Miene verzerrt. Anna fuhr vom Stuhl hoch, ließ den Umhang fallen und verkrampfte die Hände hinter dem Rücken. Hatte er sie mit der Linken nähen sehen? Angst, die gleiche Angst, die sie damals an der Graft in Jever empfunden hatte, stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu.
    "Ich wusste es, sie hat te recht! Du bist eine Hexe!", brüllte Heinz.
    "Was? Ich … ich bin keine … Wie kommst du auf solch einen Gedanken?"
    "Martha hat es gesagt. Verzaubert hast du mich ! Nicht Herr meiner Sinne bin ich gewesen. Und Helene ist auch davon überzeugt. Es sei nicht natürlich, nach so langer Zeit einfach ein Eheversprechen zu lösen, sagt sie. Da seien böse Mächte am Werk gewesen. Und jetzt habe ich den Beweis."
    "Welchen Beweis?" Anna hätte sich ohrfeigen können, dass ihre Stimme zitterte. Sie wollte nicht so klingen, als fühle sie sich schuldig. Aber sie hatte mit links genäht, Grund genug für Ratsherren wie Gilbert, einen Menschen der Hexerei zu verdächtigen. Hatte Heinz sie beobachtet?
    Er kam auf sie zu, groß, bedrohlich , und breitete die Arme aus, als wolle er sie am Fliehen hindern. Schritt um Schritt näherte er sich, und Anna wich zurück.
    "Dies e Kammer hat ein Guckloch zum Nebenraum, damit man ... Einerlei, ich habe dich gesehen! Blut hast du getrunken aus deiner Teufelshand, ihn beschworen, damit dir die Arbeit schneller von der Hand geht … Ich habe alles gesehen. Und der Wirt ebenfalls. Du hast mich verhext - ohne dich wäre Mutter noch am Leben!", schrie er.
    Unaufhaltsam drängte er sie zurück, und als Anna die Richtung erkannte, war es zu spät. Die Wand endete jäh, und sie stürzte rückwärts in die kleine Gepäckkammer.
    "Das wirst du büßen, du bringst Unglück und Tod über alle, die du kennst. Ich verfluche dich!"
    Die Tür schlug zu, der Riegel wurde vorgeschoben. Anna keuchte vor Entsetzen. Sie wollte nicht allein im Dunkeln kauern ...
    "Du kannst mich doch nicht einsperren!" , schrie sie.
    "Es ist nicht für lan ge“, kam die Antwort nach kurzer Stille. „Nur bis die Schergen des Rates dich holen. Ich werde dich anzeigen." Dann fiel die Tür des Gastzimmers wieder zu.
    Die Kammer bot gerade genug Platz, um zwei Schritte hin und her zu gehen, und war so dunkel, dass Anna die Hand nicht vor den Augen sah. Einzig die Ritzen zum Hauptraum ließen kleine Lichtstrahlen durch. Würde Heinz sie wirklich beim Rat anzeigen?
    Vielleicht wollte er sie nur erschrecken, vielleicht meinte er es ernst. Sicher war, dass Anna nicht wie ihr Vater warten würde, bis man sie holte. Doch wie sollte sie entkommen? Sie tastete die Wand ab. Die rauen Bohlen zerkratzten ihr die Fingerkuppen, aber das kümmerte sie nicht. Wie lange würde Heinz brauchen, um den Ratsvorsteher zu finden? Konnte sie die Tür einfach aufstoßen? Anna raffte den Rock und warf sich gegen die Tür. Die erbebte, öffnete sich aber nicht. Wie hatte nur der Riegel ausgesehen? Ein Auflegeriegel war es gewesen, und stabil hatte er ausgesehen. Sie sank zu Boden und tastete ihn ab. Holziger Staub drang ihr in die Nase und reizte sie zum Niesen. Dann stach sie sich an einem hervorstehenden Span.

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