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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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Anna setzte sich auf den Boden, und heiße Tränen rannen ihr über das Gesicht. So ein gemeiner Kerl! Nichts, aber auch gar nichts hatte sie sich zuschulden kommen lassen. Aber das würde ihr niemand glauben, man würde sie einem Gottesurteil unterziehen und in den Tod schicken. Marie hatte recht gehabt: Es kümmerte Gott nicht, ob ein Mensch schuldig war oder nicht. Grauen stieg in ihr auf. Was, wenn man eine Feuerprobe an ihr vollzog? Schon sah sie sich an einen Pfahl gefesselt, Heu und Holz unter sich, sah, wie der Ratsherr einen Kienspan anlegte und ... Der Span! Fieberhaft suchte sie in der Dunkelheit, bis sie sich ein zweites Mal stach. Doch statt zusammenzuzucken, lachte sie leise auf. So musste es gelingen! Sorgsam, um möglichst viel Länge zu gewinnen, löste sie den Span von der Holzbohle und hielt das geeignete Werkzeug in der Hand. Sie wählte die Stelle, an der Licht durch den Spalt fiel, und schob den Span hindurch. O nein, er steckte fest! Ruhig!, ermahnte sie sich. Langsam, sonst bricht er. Vorsichtig fingerte sie das schmale Hölzchen wieder aus dem engen Spalt hervor. Sorgfältig tastend zog sie alle überstehenden Splitter ab und versuchte es erneut. Der Span passte! Behutsam schob sie das Hölzchen mit beiden Händen höher und höher. Ein Widerstand. Schweiß trat ihr auf die Stirn, und die Schultern schmerzten vor Anspannung. Stück um Stück hob sich der Riegel, dann war es geschafft. Befreit vom haltenden Riegel, sprang die Tür auf, und Anna fand sich im Licht der Kammer wieder.
     
    Wohin? Anna stand auf dem Treppenabsatz, froh, hinter dem Rücken des Wirtes durch den Schankraum entkommen zu sein. War er eingeweiht? Hinunter von den Stufen! Der Abendwind trug Stimmen von weither durch die laue Luft.
    "E s ist nicht weit, Ihr sollt sie ja nur befragen. Wir können ... dem Rat überantworten."
    Alles hatte sie nicht verstanden, aber die se Stimme hätte sie unter Dutzenden wiedererkannt. Heinz! Sie fuhr zusammen und sah sich um. Die Fässer! Bemüht, keinen Lärm zu erzeugen, zwängte sie sich zwischen zwei dickbäuchigen Fässern hindurch in den Hohlraum unter der Treppe. Hier kauerte sie sich zusammen und hielt den Atem an. Der Beutel, wo war ihr Beutel? Der Stoff leuchtete blau durch den Spalt zwischen den Fässern hindurch. Aus Versehen hatte sie ihn losgelassen. Rasch fuhr sie mit der Hand durch die Lücke nach draußen. Greifen und ziehen war eins. Keuchend presste sie ihre Habe an die Brust - hatte man sie gesehen?
    Eine Weile geschah nichts, dann war ein Husten zu hören, gefolgt von ohrenbetäubendem Gerumpel. Wie gebannt starrte Anna auf die Fässer, doch die rührten sich nicht. Sie spähte nach oben und schloss erleichtert die Augen - die Treppe! Das Gerumpel kam von der Treppe. Ein Knall. Die Tür zur Herberge war zugeschlagen worden. Anna zwängte sich durch den Spalt nach draußen, holte tief Luft und rannte, so schnell sie ihre Füße trugen, hinein in die fremde Stadt, die vor ihr im Dunkel lag.
     
    In Trier roch es genauso übel wie in Köln. Das Geräusch ihrer Ledersohlen auf dem Pflaster dröhnte Anna in den Ohren, aber sie wagte nicht, langsamer zu werden. Heinz würde toben, und er würde sie suchen. Laufen, nur laufen, auch wenn sie dabei in einen Haufen Schafmist trat. Um alles andere würde sie sich später kümmern. Der Atem wurde ihr knapp, das Herz schlug zum Zerspringen - wohin wollte sie sich wenden? Sie konnte doch nicht endlos aufs Geratewohl weiterrennen. Plötzlich endete die Gasse. Links oder rechts? Anna entschied sich für die rechte Seite und tauchte in die nächste Gasse ein. Da, die Lücke! Zwischen zwei Steinhäusern hielt sie inne und verschnaufte. Sie sah sich um. Die Gassen waren immer enger geworden, sie war offenbar in der Stadtmitte angelangt. Vorsichtig lugte sie aus dem Spalt hervor. In der Richtung, aus der sie gekommen war, gab es nichts zu sehen. Zur anderen Seite ragte ein kleiner Kirchturm hinter den Häusern auf. Von Verfolgern war nichts zu sehen, also wagte sie es und lief wieder los. In der Nähe der Kirche gab es sicher auch einen Marktplatz. Sie würde sich verstecken und am nächsten Morgen in der Menge untertauchen, bis sie aus der Stadt fliehen konnte.
    Bei der Kirche angekommen, blieb Anna stehen und sah sich um. Still und menschenleer im Dunkeln, nur von einem großen Kreuz bewacht, schien der Marktplatz das rege Treiben des nächsten Tages zu erwarten. Sie wandte den Kopf - und erstarrte. Ein riesenhaftes Bauwerk,

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