Die Gewandschneiderin (German Edition)
aus dem Wams, wischte sich den Schweiß von der Stirn und musterte Anna mit einem Blick, als habe er vergessen, weshalb sie gekommen war.
"Soll ich zu Euch hinaufsteigen?", fragte Anna und schirmte die Augen gegen die Sonne ab.
"Ich komme zu dir." Mit steifen Schritten betrat er die steile Stiege, hielt aber sogleich inne, blickte über die Schulter zur Luke zurück, dann wieder zu Anna hinunter. Plötzlich wandte er sich um und huschte in den Eingang zurück.
"Komm du hoch !", befahl er.
Anna hob die Schultern. Je eher sie die Straße verließ, umso besser. Rasch erklomm sie die Stiege und schlüpfte an dem Schneider vorbei ins Dunkel des Hauses. Der Gestank reizte sie auf der Stelle zum Würgen.
Eine unglaubliche Mischung aus Essensdünsten und etwas, das einfach alt roch, mischte sich mit Moder und dem Holzschimmelgeruch. Anna unterdrückte den Brechreiz und nahm sich zusammen. Meister Spierl war zurückgewichen und hatte einen Weidenzweig aus dem Gürtel gezogen, den er wie ein Schwert vor die dürre Brust hielt. Erst aus der Nähe sah Anna, wie klein der Gewandschneider wirklich war. Sein Kopf mit dem Kranz aus weißen Haarflusen endete auf der Höhe ihres Busens, und sein Haupt war deutlich kleiner als das ihre. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen, als drücke ein Nachtmahr von innen dagegen. Nur der Kropf am dürren Hals war so dick, dass der kleine Kopf darauf hockte wie ein Kleinkind auf einem zu großen Schemel. Und dazu dieser Geruch. Anna atmete tief durch. Einerlei, sie würde nicht auf die Straße zurückkehren. Sie fasste den Saum ihres Kleides und hielt ihn ihm hin. Spierl griff danach und hob dabei den Rock - nun war es Anna, die zurückwich. Doch als sie sah, dass der Alte nur Augen für die Nähte, nicht aber für ihre Beine hatte, atmete sie erleichtert auf. Spierl zog die Nähte auseinander, tastete, wie flach die Übergänge waren, und rieb den Stoff zwischen den Fingern, dann nickte er.
Anna hielt ihm die Rübe hin. Spierl ließ den Rock los, griff nach dem Gemüse und schnüffelte daran. Der frische Geruch schien ihm zuzusagen, denn er legte den Kopf schief, biss vorsichtig die Spitze ab und wedelte mit der Weidenrute in Richtung der Tür.
"Komm !", forderte er sie auf.
Und so betrat Anna zum ersten Mal das Haus eines echten Gewandschneiders. Der Alte führte sie in einen kleinen Saal, in dem gepolsterte Stühle standen und auf Kunden zu warten schienen. Truhen reihten sich entlang der Wand aneinander, und eine Schale mit Äpfeln verströmte einen angenehmen Duft, der tapfer gegen den üblen Geruch anzukämpfen schien.
"Weiter, weiter !", drängte der Meister und wieselte durch eine Tür hinter dem Tisch. Ein Gang schloss sich an den Saal an, düster und drückend. Hier war der Mief so schlimm, dass Anna nur noch durch den Mund atmete. Sie folgte Meister Spierl, bis er eine Tür aufstieß und zur Seite trat, um sie vorbeizulassen.
"Warte da !"
Anna nickte wortlos.
"Wiffi.“ Spierl hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund. „Wiffiiii! Wo steckt sie nur wieder? Altes Weib, nutzlose Magd ..." Laut schimpfend entfernte er sich und verlor sich in dem dunklen Flur.
Anna sah sich in der kleinen Kammer um. Ein Tisch, vier Schemel, eine Truhe, ein Regal mit Geschirr, mehr passte nicht hinein. Einmal im Haus, war es Anna gleichgültig, wie lange sie warten musste. Heinz konnte draußen suchen, so lange er wollte, hier drinnen war sie in Sicherheit.
Der Kopf, de n sie schon gesehen hatte, als sie von der Straße aus gerufen hatte, saß auf einem Hals, der genauso dick war wie der von Meister Spierl. Das musste Wiffi sein. Alles an der alten Magd war dick: die Hängebacken, die klobigen Arme, der kugelrunde Bauch, die aufgequollenen Füße in den abgetretenen Schuhen.
" Guten Tag, ich heiße Anna."
"Pff. Ein Weib. Was hat er sich dabei gedacht? Wo soll ich dich denn unterbringen, etwa bei den Gesellen?" Ohne ein weiteres Wort verschwand Wiffi wieder durch die Tür. Anna hörte sie im Flur noch eine Weile krächzen.
"Taddäus! Taddäus! Wen hast du da bloß angeschleppt ..."
Was, wenn sich kein Platz für eine Frau fand? Was, wenn Spierl sie wieder wegschickte? Bei dem Gedanken daran kam Anna selbst der Geruch nicht mehr so schrecklich vor. Sie brauchte eigentlich nicht viel Platz und konnte auch auf der Küchenbank schlafen. Wiffi watschelte in die Kammer zurück und unterbrach Annas Gedanken.
"Worauf wartest du? Mach schon !"
Das ließ Anna sich nicht zweimal sagen. Sie
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