Die Giftmeisterin
Entsprechend ungeschickt stellte Karl sich an. Nach seinem Besuch hätte wohl jeder Kranke die Hoffnung auf Genesung aufgegeben.
»Geht es Prinzessin Teodrada besser?«, fragte ich, als ich Karl hinausbegleitete.
»Sie ist auf dem Weg der Genesung«, sagte er knapp. »Gott sei mit Euch, Gräfin.«
Das hatte er mir, glaube ich, noch nie gesagt, und eine Mörderin wie ich konnte seine Worte als Misstrauen oder sogar als Drohung auffassen. Andererseits lag mein Gemahl im Sterben, und der König hatte möglicherweise einfach etwas sagen wollen, von dem er glaubte, es wäre tröstlich.
Bald darauf kam - vermutlich hatte der König ihn darum gebeten - Papst Leo. Arnulf bat um Vergebung seiner Sünden, küsste das Kreuz und erhielt die Letzte Ãlung, bevor er wieder in tiefen Schlaf fiel. Danach verlieà uns der Papst wieder.
Erneut vergingen einige Stunden. Gerlindis, Berta und ich zündeten die Ãllampen an und wachten von da an zu
dritt an Arnulfs Bett. Mitten in der Nacht - Gerlindis und Berta saÃen mit hängenden Köpfen auf den Stühlen und schliefen - schlug er noch einmal die Augen auf. Ich setzte mich an den Rand seines Bettes.
Wir sahen uns an, sahen uns lange an.
Und dann fragte er: »Warum?«
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Warum Arnulf stirbt:
Er stirbt, weil die Vorstellung, einen Sohn zu haben, ihm wichtiger ist als das Leben seines Weibes.
Er stirbt, weil die Blumen, die er mir nach dem Verlust unseres ersten Kindes aufs Bett legte, bis heute die letzten Blumen von ihm waren.
Er stirbt, weil er - von Blut und Lust berauscht - Gerolds Frau bestieg.
Er stirbt wegen der Heimlichtuerei, der Feigheit, wochenlang vor mir zu verbergen, dass er einen Sohn gezeugt hatte.
Er stirbt wegen eines windigen Tages vor siebzehn Jahren, als er drei jungen sächsischen Brüdern, die sich ergeben hatten, den Kopf abschlug.
Er stirbt, weil ich die Augen der sächsischen Kinder beim Anblick ihrer brennenden Dörfer gesehen habe.
Er stirbt, weil er einen Schlächter verehrt, ihm nicht nur dient, nein, ihn verehrt und ihm nacheifert.
Er stirbt wegen seines Versuchs, zwei Leben zu leben: eines mit mir und eines mit ihr.
Und er stirbt vor allem deshalb, weil er mich im Stich lieÃ, als ich seinen Schutz am nötigsten hatte; weil er sich vor Emma stellte und damit gegen mich; weil er mir nicht glaubte, als ich bedroht war; weil ich ihn anlügen musste, um zu verhindern, dass er mich eine Lügnerin nannte; weil ich Angst um mein Leben haben musste, nur damit er seine
Lüste erfüllt bekam; weil er mich verlieÃ, als er Emma ins Haus holte; weil er alles haben wollte und mir nichts mehr übrig lieÃ.
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Darum stirbt er.
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Vielleicht stirbt er auch, weil die allgemeine Gewalt uns krank gemacht hat, uns alle, und sein Tod die Folge der allmählichen Verwesung der staatlichen Moral und damit unserer moralischen Gesundheit ist.
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Ahnte er die Gründe? Ich antwortete ihm nicht. Ich weià ja nicht einmal, ob sich sein »Warum« auf den Grund seines Sterbens bezog. Erhält ein Mensch kurz vor dem Tod Hellsicht, irgendeine Art von besonderer Klarheit? Ich habe nie erfahren, was sein »Warum« bedeutete, und er hat nie die Antwort auf sein »Warum« erhalten. Wir waren beieinander, zwei Fragende, zwei Enttäuschte, sahen uns lange an, und er drückte meine Hand, vielleicht sogar in dem Wissen um das, was ich getan hatte. Ich möchte es gerne glauben. Aber im Grunde spielt es keine Rolle.
55
DAS HERZ KÃMPFT, es kämpft, kämpft. Das Herz bleibt dann stehen.
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Am Morgen von Heiligabend wurde Arnulfs Herz müde. Er starb, als der Schnee aufgehört hatte zu fallen und ungewöhnlich warme Winde über das Land zogen, die alles binnen Stunden schmelzen lieÃen, was in Tagen entstanden war.
Ich war bei ihm, als es geschah. Ich allein. Ich hörte, wie sein Atem schwieg.
Eine siebenundzwanzig Jahre alte Erinnerung: Ich begegne einem jungen Mann namens Arnulf.
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Es ist ein Tag wie jeder andere seit siebzehn Jahren. Die Jahreszeiten verändern sich, nicht aber das Leben, und selbst die Jahreszeiten folgen den immer gleichen Regeln. Die Geräusche, die in unser Haus in Chalon an der Saöne dringen, sind seit Jahr und Tag dieselben. Da ist das Klappern und Knarren der Verladestation am Fluss, wo Getreidesäcke und Weinfässer auf die Kähne geschafft werden; die Rufe der Händler vom Markt; das Rattern
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