Die Giftmeisterin
vorbeifahrender Karren; das Blöken der Kühe und Schafe, die am anderen Flussufer weiden; gelegentlich die Glockenschläge von der Bischofskirche und immer
das Hämmern und Schimpfen aus der Werkstatt des Vaters. Den Sommer bestimmt der scharfe Geruch des Mists von den Feldern, es folgen der Geruch des Strohs, des gärenden Weins, des feuchten, schimmelnden Holzes der Hütte, in der wir wohnen; und immer der Geruch des Leders aus der Werkstatt des Vaters. Der Blick fällt auf die schöne Saöne, die Kornfelder und Weiden der Bresse, die Weinberge des Charolais; aber meist einfach nur auf die Hütte auf der anderen Seite der Gasse.
Seit ich mich nach jungen Männern umdrehe, spüre ich eine gewisse Bereicherung meines Lebens, und das ist neu und aufregend. Ich weiÃ, dass über mich gesprochen wird. Mein Vater ist im Gespräch mit dem Vater von Chilpert, der Pächter eines Weinbergs ist, und mit dem Vater von Dagobert, der ihm die Nägel und andere Eisenteile liefert, die er für die Herstellung der Sattel, Zaumzeuge und Pfluggeschirre benötigt. Ich würde lieber Chilpert heiraten, weil er hübsch ist und im Gegensatz zu Dagobert noch beide Augen hat, aber ich werde nicht gefragt, und das hat wohl auch seine Richtigkeit, weil Gott es so wollte. Man hat sich jedoch noch nicht geeinigt.
Und dann kommt er . Es ist der warme Vorfrühling des Jahres 772. Er sucht die Werkstatt meines Vaters auf, die, nur durch einen Innenhof von unserer Hütte getrennt, keine zehn Schritte entfernt ist. Ich sehe ihn durch das Fenster. Er ist groà und stattlich, und wenngleich er nicht so hübsch wie Chilpert ist, ist mein Interesse sofort geweckt.
Ich lasse alles stehen und liegen und gehe in den Innenhof. Mein Vater ist aus seiner Werkstatt gekommen
und unterhält sich mit dem Fremden, der Zaumzeug kaufen möchte.
»So, in den Dienst des neuen Königs wollt Ihr also treten«, sagt mein Vater.
»Ich hörte, er verbrachte den Winter bei Reims, und hoffe, ihn dort noch anzutreffen. Hier in der Nähe soll die StraÃe nach Reims verlaufen.«
»Ja, Ihr kommt schnell auf ihr voran. Aber in den Dienst des Königs zu treten ist ein teures Unterfangen, mein Herr.«
»Ich habe etwas Geld. Bevor ich zum König gehe, brauche ich unbedingt neues Zaumzeug, und zwar gutes. Ihr versteht mich, wirklich gutes.«
»Wollt Ihr mich beleidigen, Herr? Ich mache das beste Zaumzeug im Umkreis von drei Tagesritten. Mein Wort darauf. Doch gute Ware kostet gutes Geld.«
Sie verhandeln über den Kaufpreis, und zwischendurch sprechen sie über den neuen König. Mich interessiert weder das eine noch das andere. Die Könige sind noch weiter weg als Gott, dem wir wenigstens in der Kirche begegnen. Ein König hingegen begegnet uns nur als Gesicht auf den Münzen, die uns von den Steuereinziehern weggenommen werden. So viel zumindest habe ich mitbekommen, dass unser junger König Karlmann, der Sohn des groÃen Königs Pippin, nach nur drei Jahren Herrschaft über Westfranken und Burgund vor einigen Monaten verstorben war, und dass sein älterer Bruder Karl, der Ostfranken regierte, das Frankenreich wiedervereinigt hatte.
Ich schlendere um den jungen Fremden und meinen Vater herum, Runde um Runde, und tatsächlich bemerkt mich der Fremde, ja, er lässt sich sogar von
mir ablenken, verspricht sich, verliert den Gesprächsfaden, bis es meinem Vater zu bunt wird. Sich plötzlich an mich wendend, sagt er: »Herrgott, das ist ja nicht zum Aushalten, nun mach mal hinne, Kind, und stell dich vor.«
Mein Vater kann lustig sein - und ungeduldig. Er ist gut zu seinen Töchtern, streng zu seinen Söhnen und ungerecht zu seiner Frau, meiner Mutter. Ich mag ihn nicht. Aber er ist mein Vater, und an diesem Tag ist er der beste Vater der Welt, denn er hat nichts dagegen, dass der Fremde und ich Zeit miteinander verbringen.
Ich zeige Arnulf meine kleine Welt - Chalon und die Weinfelder -, und er erzählt mir von der groÃen Welt. Sein Vater besitzt ein Gut in einem Landstrich, Hessen, von dem ich noch nie gehört habe, am Südhang eines Mittelgebirges, Taunus, das mir nichts sagt. AuÃerdem fällt uns die Verständigung schwer, da seine Sprache und meine Sprache zwar eine gemeinsame Wurzel zu haben scheinen, die sich allerdings viele Male geteilt hat. Seine Zukunft ist ungewisser als die von Chilpert, Dagobert oder sonstwem, den ich kenne.
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