Die Giftmeisterin
nach und nach zur Kenntnis. Verständlich zu sprechen war mir zunächst unmöglich, ich musste meine Worte regelrecht herauswürgen.
»Arnulf... stirbt. Ich... nicht... Emma... Arnulf... Gift... brauche...«
Sie reagierte nicht auf meine Worte. Da rüttelte ich an ihren Schultern. »Gib... mir... Gegengift.«
Sie verneinte mit einer kleinen Geste.
Ich wurde zornig, und mit dem Zorn kam die Fähigkeit zu sprechen zurück.
»Zu jedem Gift«, sagte ich mit dunkler Stimme, »gibt es ein Gegengift.«
»Es ist ein Irrglaube, dass alles sein Gegenstück hat. Nur weil die Sonne Schatten wirft und das Feuer mit Wasser gelöscht werden kann...«
»Lass das Gerede. Gib mir ein Gegengift.«
»Ich habe keines, da es keines gibt. Zumindest ist es mir nicht bekannt.«
»Du... du... sagst... Aber ich... ich habe Arnulf... er stirbt... und ich habe... Das darf... das darf nicht sein. So darf... es... nicht... enden. Nein... nein.« Ich zitterte. »Nein... nein.«« Ich schlug zu, irgendwohin in die Luft. »Nein... nein.« Ich schlug gegen eine von einem Balken hängende Kette, schlug so lange gegen sie, bis sie zerriss und die Steine quer durch den Raum flogen. »Nein... nein.« Ich schlug gegen andere Gegenstände, TongefäÃe und Schalen zerbarsten, Würzpulver rieselte zu Boden, Wandteppiche fielen herab, Pflanzen stürzten um, eine brennende Ãllampe setzte beinahe das Stroh in Brand, wurde aber von der Alten ausgetreten. »Nein... nein... nein.« Fionee versuchte, mich festzuhalten, aber ich kämpfte dagegen an.
Mein ganzer Zorn richtete sich gegen sie, die Giftmeisterin, die Giftmischerin, die Kindsmörderin, die Fremde, und damit richtete er sich auch gegen jene Giftmörderin und Kindstöterin, gegen jene Fremde in mir.
Ein Schlag Fionees brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ein Stoà lieà mich auf den Rücken fallen. Fionee setzte
sich auf mich. Dort lag ich also, fast bewegungsunfähig, und schrie wie eine Furie. Ich schrie mein »Nein« in die Welt, ich schrie aber mehr und mehr auch Unverständliches. Mit weit aufgerissenem Mund stieà ich Laute aus, die nicht von mir zu kommen schienen.
Die Alte hielt meinen Kopf fest, während Fionee eine Phiole von der GröÃe einer Kanne öffnete und deren Hals über mein Gesicht hielt. Ein feiner Strahl ergoss sich in meinen Mund, in die Schreie hinein. In den Wahnsinn.
Wie lange dauerte es, bis ich schwieg? Die Zeit bis dahin - vierzig, fünfzig, hundert Atemzüge? - waren die Hölle, mit allen vorstellbaren Schmerzen für Körper, Geist und Seele.
Dann wurde ich ruhig. Ein bisschen war das wie der Tod.
53
»DASS ICH EINE Giftmeisterin bin, habe ich dir schon gesagt. Und auch, dass ich keine herkömmliche Giftmischerin bin. Jetzt, wo wir das, was du soeben durchgemacht hast, überstanden haben, kann ich dir den Rest erzählen.
Ich besaà bereits mit sieben Jahren eine Gabe, für die es keine Bezeichnung gibt, die Gabe nämlich, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Für mich war es selbstverständlich, dass ich anhand von Mimik und Gestik erkannte, ob ich angelogen wurde, und ich glaubte, alle anderen Menschen besäÃen diese Fähigkeit ebenso. Daher wunderte ich mich, welch plumpe Lügen man mir manchmal auftischte - die ich mit groÃem Freimut als solche bloÃstellte. Woran ich die Lüge erkenne, ist schwer zu erklären, weil der Vorgang so natürlich für mich geworden ist wie das Sprechen und Hören und Schmecken. Woran erkennt man, dass etwas bitter schmeckt? Wie gelingt es, mit geschlossenen Augen unter bloÃem Einsatz der Fingerspitzen einen weichen Stoff von einem groben zu unterscheiden? Ich sehe die Lüge anhand bestimmter Stellungen des Mundes oder daran, dass sich jemand an die Nase fasst. Ich höre die Lüge an bestimmten Schwingungen der Stimme. Das sind nur Beispiele. Es gibt Hunderte von Zeichen, die ich zu deuten weiÃ, so wie wir alle ein Kopfnicken oder fest zusammengepresste Lippen zu deuten wissen.
Es ist kaum verwunderlich, dass ich wegen dieser Gabe
für die Erwachsenen zum Problem wurde. Wie oft wurde ich von meinen Eltern verprügelt, weil ich die Wahrheit gesagt habe! Gleichaltrige mieden mich.
Im Alter von elf Jahren kam ich zu Chrestme in die Lehre. Chrestme, das ist sie, die Alte. Sie kam mit einem Wagen durch das Dorf, in dem ich aufwuchs, stellte sich
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