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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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als Heilerin vor und rastete zwei Tage bei uns. Es zog mich zu ihr. Sie bemerkte nach einem kurzen Gespräch, was es mit mir auf sich hatte, sagte, dass sie schon lange nach mir gesucht habe, und brachte meine Eltern mühelos dazu, mich herzugeben. Als wir abfuhren, spürte ich keinen Trennungsschmerz. Mir war, als sei Chrestme meine wahre Mutter, da sie mich verstand.
    Ein Jahr später, mit zwölf Jahren, erhielt ich die Gabe des zweiten Gesichts. Mit >erhalten< meine ich, dass ich nichts dazutat, und mit >zweitem Gesicht< meine ich, dass ich bisweilen Dinge sah, die sich erst noch zutragen würden. Doch diese Worte, die ich benutze, um die Gabe zu erläutern, geben nicht wirklich wieder, was in den Momenten des zweiten Gesichts passiert. Im Grunde ist die Zukunft für mich nicht sichtbar. Da enthüllt sich kein Bild, da tut sich kein Riss in der Zeit auf, durch den ich luge. Ich fühle die Zukunft, ich erlebe, durch lebe sie. Wobei ich weder Einfluss darauf habe, wann das geschieht, noch was Gegenstand des >Blicks< ist. Es gibt Substanzen, die den Zustand fördern, aber ich kann den Zustand nicht erzwingen. Wenn er aber eintritt, dann ist er von unbeschreiblicher Intensität und kontrolliert meinen Körper.
    Chrestme besaß die gleichen Gaben. Doch wie bei allen menschlichen Fähigkeiten, so werden auch diese durch das Alter beeinträchtigt, ja, sie vergehen sogar. Seit einigen Jahren führe ich Chrestmes Werk fort, aber Chrestmes
Erfahrung ist mir weiterhin ein Quell des Rats, und die Fertigkeiten der Heilkunst beherrscht sie selbstverständlich noch perfekt. Wir sind Heilerinnen und Hebammen und Engelmacherinnen, die meisten Menschen lernen uns nur als solche kennen. Aber für ganz wenige, auserwählte Menschen werden wir zu Giftmeisterinnen, und ich werde zur Seherin. Die Aufgabe sucht mich, nicht ich suche die Aufgabe.
    Genau das ist mir mit dir passiert. Ich spürte bei unserer ersten Begegnung, dass unser Zusammentreffen kein Zufall ist. Es war und ist beabsichtigt und sinnhaft. Deine Leiden wurden mir offenbar, noch bevor du mir von ihnen erzähltest. Ich konnte sie fühlen. Was du mir enthüllt hast, waren lediglich die Details.
    Und dann überfiel mich die Zukunft, deine Zukunft, Ermengard. Das Zittern, die Schreie, der Wahnsinn - alles, was ich kürzlich erlebte, als du bei mir warst, waren dein Zittern, deine Schreie und dein Wahnsinn. Für eine kurze Weile war ich du. Ich war die, die du heute gewesen bist.
    Seit dieser Stunde wusste ich, welche Tat du begehen würdest, und vor allem, an wem. Wie ich schon sagte: Ich sehe nicht, aber ich fühle. Und das, was ich fühlte, war zu stark, um den Mord an einer Rivalin als Ursache zu haben. Als ich dir das Gift gab, war ich mir darüber im Klaren, dass du es nicht gegen Emma einsetzen würdest, sondern gegen einen geliebten Menschen, deinen Mann. Doch ich schwieg, weil es nicht an mir ist, das Schicksal zu beeinflussen.
    Wenn du mich fragst, warum ich dir das Gift gab, wieso ich überhaupt Gift mische und verkaufe und wieso ich es nicht an jeden verkaufe - Eugenius beispielsweise habe ich es verweigert -, so fällt meine Antwort wiederum kompliziert
aus. Ich gebe Gift nur dann heraus, wenn ich den Grund, weshalb es verabreicht werden soll, kenne und billige. Ich habe in Bourges einem vierzehnjährigen Knaben, der von seinem Vater regelmäßig des Nachts zu Notzucht gezwungen wurde, Gift gegeben. Ich verweigerte es einem Beamten in Konstantinopel, der aus Ehrgeiz seinen Vorgesetzten beseitigen wollte.
    Ich half einem Kaufmann in Brindisi, der von einem Konkurrenten ruiniert wurde, indem dieser von Schergen seine Schiffe beschädigen ließ. Ich verweigerte es einem Sarazenen, der einen Verrat, den er begangen hatte, zu vertuschen suchte.
    So leicht wie in diesen Beispielen ist die Entscheidung nicht immer. Ich gab einer jungen friesischen Frau Gift, die sich ihres Gemahls entledigen wollte, weil sie einen anderen Mann von ganzem Herzen liebte. Ihr Gefühl für ihn war echt, ebenso die Lieblosigkeit ihrem Gatten gegenüber. Doch weiß ich, ob der Gatte diese Lieblosigkeit verdiente? Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob der Konkurrent des Kaufmanns von Brindisi, obwohl ein Schurke, nicht trotzdem ein guter Gatte und Vater gewesen ist. Einen guten Grund für eine Tat zu haben, heißt nicht zwangsläufig, dass sie begangen werden sollte.
    Daher erkläre

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