Die Giftmeisterin
Menschen, die herumirren. Die einen laufen von Ost nach West auf der Suche nach irgendetwas Essbarem, denen diejenigen entgegenkommen, die von West nach Ost laufen auf der Suche nach irgendetwas Essbarem. Man stellt Brot aus Baumrinde mit ganz wenig altem Mehl her. Uns fällt auf, dass nirgendwo ein Hund zu sehen ist.
Wir können unsere Vorräte unter noch so vielen Decken verstecken, die Leute riechen die Nahrung, die an ihnen vorbeifährt. Arnulfs kriegerische Aufmachung und der königliche Wimpel auf seiner Lanze hält die Leute bei Tage davon ab, uns auszuplündern, und damit wir nicht des Nachts bestohlen werden, schlafen die Männer in den Vorratswagen zwischen Schinken, hartem Brot und Trockenfisch. Trotzdem verlieren wir unsere Hühner, bis auf zwei.
Wir kommen nur langsam voran. Immer wieder müssen wir groÃe Umwege machen, weil StraÃen überschwemmt sind. Anfang Juli sind wir in Selz. Dort werden, als wir eintreffen, Hexen zu Tode gepeitscht, was den Beifall meiner Verwalterin findet, die zu wissen meint, dass Hexen die Wurzeln allen Ãbels sind. Mitte Juli, kurz vor Speyer, wird unser kleiner Tross am hellen Tag von einer Horde Räuber zu Fuà angegriffen. Wir werden sie erst wieder los, als wir ihnen unsere beiden
letzten Hühner opfern, die von ihnen zerfetzt werden, als wären sie keine Menschen, sondern Wölfe.
Und doch haben wir erst den Anfang gesehen. Die Fahrt durch Ostfranken gerät zu einem furchtbaren Albtraum. Es ist August - aber was heiÃt das schon in diesem Jahr? Es gibt keinen Sommer, keine Jahreszeiten mehr, es gibt nur noch den Regen. Die Leute werden wahnsinnig vor Hunger, vor Regen, wahnsinnig auch von dem Wahnsinn der anderen, von den Verbrechen... Gutshöfe werden überfallen, ganze Familien ermordet, und in Gasthöfen werden Reisende im Schlaf erwürgt. Wir fragen uns, wieso. Und dann verstehen wir es, als wir beobachten, wie auf einem Kirchhof einige Leute dabei sind, die Leiche eines kürzlich Verstorbenen auszugraben und mitzunehmen.
Die Harmlosesten unter den Tausenden und Abertausenden von Irren stürzen sich auf verschlammte Ãcker und tun so, als befänden sie sich in einem wogenden Weizenfeld. Sie sehen schwer beladene Birnbäume, wo nur winzige, schwarze, verfaulte Früchte an den Ãsten hängen. Und giftige Pilze werden zu schmackhaften Champignons. Tote, Zugrundegegangene liegen am Wegesrand, und die noch Lebenden kämpfen mit Wölfen um die Leichen.
Auch wir bleiben nicht vom Wahnsinn verschont. Eines Morgens ist der älteste Verwaltersohn mit unserem letzten Schinken verschwunden. Ein kleines Fass Trockenfisch ist nun alles, was wir noch zu essen haben. Drei Tage später wird meine Zofe von einem anderen Verwaltersohn geschändet, der daraufhin die Flucht ergreift. Von keinem der beiden werden wir je wieder etwas hören, und meine Zofe erhängt sich kurz bevor wir
Salzburg erreichen. Abgezehrt an Körper und Geist und im sechsten Monat schwanger, trete ich Ende August vor den König, vor dem ich zusammenbreche.
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Ich bekomme hohes Fieber. An das, was in den nächsten drei Wochen passiert, habe ich kaum Erinnerungen. Berta pflegt mich bei Tag, und Arnulf wacht in der Nacht an meinem Bett. Einige Male höre ich ihn beten.
Es ist ein Wunder, dass ich mein Kind noch nicht verloren habe, als das Fieber sinkt und ich wieder erwache. Bis zur Geburt bleibe ich im Bett, alle schlechten Nachrichten werden von mir ferngehalten. Erst später erfahre ich, welche Berichte zwischen August und November den Hof in Salzburg erreichen: Klöster werden von Bürgern belagert und gestürmt, bekehrte Heiden wenden sich wieder den alten Göttern zu, Bittprozessionen werden von Wolfsrudeln angegriffen, Krankheiten brechen aus, die Sachsen befinden sich im Aufstand, vernichten ein fränkisches Heer und fallen in Friesland ein, die Italiener in Benevent schlagen sich auf die Seite der Byzantiner, die Sarazenen fallen in Aquitanien ein... Gott scheint sich von Karl abgewandt zu haben.
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Nicht aber von mir. Mein Kind wächst.
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Ich gebäre es am dritten Dezembertag. Ich habe viel weniger Schmerzen als bei meinen drei vorangegangenen Geburten. Es ist ein Junge. Er kommt mit blauer Haut zur Welt und wird von der Hebamme mit Tüchern umwickelt und fortgeschafft, bevor ich ihn sehen, berühren kann.
Fionee drückte meine Hand, während ich erzählte, warum der
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