Die Giftmeisterin
Verlust dieses vierten Kindes mich länger quälte als die Verluste davor.
Die beiden ersten Kinder waren noch nicht entwickelt gewesen, und beim dritten Kind hatte ich wenigstens den Trost, es fünf Tage lang bei mir gehabt zu haben mit seinem Schreien, den verkniffenen Blicken und um Hilfe bittenden Händen. Diesem Kind hatte ich etwas geben können, wenn auch nur kurz. Das vierte Kind war voll entwickelt gewesen, aber es blieb mir nichts von ihm, gar nichts. Da war etwas aus meinem Körper gekommen, was hätte lebendig sein können, es jedoch nicht war, und es wurde mir verwehrt, auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen, eine einzige Berührung zu erleben und eine Verbindung herzustellen, ja, auch zur Leblosigkeit meines Kindes eine Verbindung herzustellen. Entsetzlich, diese Berührungslosigkeit. Als hätte ich ein Gespenst geboren. Oder einen Irrtum. Da klafft eine bedeutende Lücke in meinem Leben, die eine Wunde ist und immer bleiben wird.
Ich war Ende dreiÃig, hatte viermal unglücklich geboren und betete zu Gott, nicht ein fünftes Mal schwanger zu werden. Gott hatte ein Einsehen mit mir - das einzige Einsehen, wie ich heute weiÃ, das er mir jemals gewährte.
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Und dann kam ich auf Emma zu sprechen. Ich sagte, mich berühre weniger die Tatsache, dass sie sich mit meinem Gemahl ins Bett legte, sondern dass sie Einfluss auf seine Entscheidungen hätte, ihm Ratschläge erteile, vertraut mit ihm spreche. Ich sagte, das wäre meine Domäne, ich hätte sie mir in Jahrzehnten des Ehelebens verdient. Im Bett, wo ich versagt habe, solle sie über ihn verfügen, ansonsten jedoch gehöre er zu mir.
»Hast du das gehört?«, fragte Fionee.
»Was?«
»Dich selbst.«
Ich hatte in einer Art Entrückung gesprochen, in der ich alles hätte sagen können, was mir im Kopf herumging und was mir auf dem Herzen lag. Eine gewaltige Schamlosigkeit wühlte in meinem Körper. Ich fand Gefallen an ihr, sie tat mir wohl, ich ergab mich.
»Du sagtest«, ergänzte Fionee, »dass du im Ehebett versagt hättest.«
Ja, ich erinnerte mich, das hatte ich gesagt. Und ich begriff sofort, worauf Fionee hinauswollte. All der Wut auf Emma, all dem Schmerz wegen der verlorenen Kinder, der Traurigkeit wegen der vertanen Jahre, allem Schmerz wegen der Schläge meines Vaters und der Beleidigungen lag ein Vorwurf gegen mich selbst zugrunde. In meinen Augen war ich ein törichtes Kind mit versponnenen Träumen, eine unschöne Person, ein fruchtloser Baum, eine Frau, die ihren Mann nicht halten konnte. Die Vergangenheit war noch lebendig, sie lieà nicht von mir ab, besser gesagt, ich lieà nicht von ihr ab.
Fionee wies mich auf etwas hin, was seit langer Zeit unbeachtet in mir ruhte, von dessen Existenz ich jedoch seit jeher wusste.
»Du weidest dich an der Idee deiner Unzulänglichkeit«, sagte sie. »Doch was du dabei zu dir nimmst, ist pures Gift. Du kaust darauf herum, frisst es in dich hinein, würgst es hoch, kaust und kaust. Du bist dir nicht gut genug, Ermengard, dein Leben ebenso wenig. Solange dieser Zustand anhält, wirst du keinen Frieden finden. Du...«
Sie brach abrupt ab. Die plötzliche Unterbrechung und Fionees starrer Blick, der über meine Schulter hinwegging,
holten mich in die Gegenwart zurück. Ich wandte meinen Kopf dorthin, wo Fionee etwas zu sehen schien.
Aber da war nichts. Nur das Zeug, das in diesem Häuschen überall herumstand.
Als ich mich wieder Fionee zuwandte, zitterte sie am ganzen Körper.
18
WIR HALFEN IHR, sich auf den Boden zu legen, ich und die Alte. Sie hatte sich erhoben und hielt Fionees Kopf fest, so als wolle sie verhindern, dass er sich löse. Fionee zitterte noch immer. Mit weit aufgerissenem Mund stöhnend, lag sie vor uns. Dann schrie sie. Ich verstand sie nicht. Ihre Worte schienen keiner Sprache anzugehören, und wenn doch, dann einer, die von weit her oder von tief innen kam.
Die Alte verzog keine Miene, und auch ich blieb seltsam sorglos. Das Ereignis nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch, ohne dass es mich so beunruhigte wie es mich hätte beunruhigen sollen. Halb entrückt war ich unfähig, Fragen zu stellen oder Hilfe zu leisten. Ich fühlte mich sogar gut, glaubte mich an einem anderen Tag, zu einer anderen Zeit zu befinden. Ich trank den Rest des Becherinhalts, von dem ich ahnte, dass er meine Stimmung noch verstärken
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