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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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davonschwimmen, was sie selbstverständlich nicht zugibt, was ich jedoch an ihren Augen ablese. Seltsam, dass man Menschen, mit denen man als Kind viel Zeit verbrachte, auch viele Jahre später und trotz Entfremdung noch immer einschätzen kann.
    Durch diese kleine Zurechtweisung, die mir gelungen ist, verspüre ich die Kraft, die Dinge nun entschieden in die Hand zu nehmen. Dieser kleine, verrauchte Raum bedrückt mich, und ich sage: »Lass uns nach draußen und ein Stück spazieren gehen, die Sonne scheint.«
    Â»Es ist kalt da draußen.«
    Ich werfe ihr meinen Mantel um die Schultern. Er ist blau und sehr fein gewebt.
    Â»Du kannst ihn behalten«, sage ich.
    Meine Schwester warf mir vor, die Gräfin zu spielen, und genau das tue ich jetzt. Ich glaube, ihre Gedanken zu kennen. Der Mantel ist ungefähr einhundert Pfennige wert, da er die Farbe der Edlen hat, und mit einhundert Pfennigen bringt sie ihre Familie über den halben Winter. Würde ich ihr den Mantel oder Geld als Geschenk anbieten, würde sie in ihrem Trotz mein Angebot schroff zurückweisen.
    Diesmal ist es anders. Friedgard hat etwas zu verkaufen. Und der Mantel ist eine Anzahlung.

    Â 
    Ein kräftiger Wind bläst die gelben Blätter von den Bäumen, die eine Weile tanzen und sich dann auf den gemähten Wiesen oder auf der behäbigen Loire niederlassen. Friedgards Hütte steht außerhalb der Stadtmauern von Orleans, was in den Zeiten, in denen wir leben, nicht gefährlich ist, da das Reich des Königs nur an den Rändern Krieg führt. Im Binnenland herrscht Friede, sodass sogar die Stadtmauern verfallen. Auch die Räuber trauen sich nicht nahe an die Städte heran.
    Die Eskorte, die Arnulf mir mitgegeben hat, wartet in zwanzig Schritt Entfernung und macht auf Friedgard großen Eindruck. Sie zieht den Mantel enger um ihre Schultern, streicht mit der flachen Hand über den feinen Stoff und sagt: »Ich habe sechs Töchter und einen Sohn. Den Sohn kriegst du nicht.«
    Â»Ich will keines deiner Kinder«, lüge ich. Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, ohne ein Kind nach Aachen zurückzukehren.
    Â»In deinem Brief - den ich mir vom Priester habe vorlesen lassen - hast du angedeutet, dass du eines meiner Kinder zu dir nehmen willst.«
    Â»Ich schrieb, dass es vorteilhaft für deine ganze Familie wäre, wenn eines deiner Kinder eine Erziehung bei Hofe erhielte.«
    Â»Na bitte, sag ich doch. Du kannst Begga haben.« Sie wendet sich in Richtung der Felder, wo sechs Mädchen verschiedenen Alters mit gekrümmten Rücken irgendetwas auszupfen. »Begga, Plektrud, Irmtrud, Gerlindis, Chalpaida, Chrotudes - kommt her. Trödelt nicht herum. Schneller!«
    Der Anblick der sechs Nichten, die sich nebeneinander vor mir aufstellen, raubt mir die Sprache. Sie sind
unglaublich verwahrlost. Meine und Friedgards Eltern waren auch arm, aber sie haben es irgendwie geschafft, uns sauber und anständig aussehen zu lassen. Meine Nichten tragen allesamt verschlissene Kleidung, wie ich und Friedgard sie als Kinder nie haben tragen müssen, aber was mich weit mehr berührt, ist ihre Mimik. Begga, die Älteste, ist ungefähr zwanzig Jahre alt, und während sie mich versucht anzulächeln, springt ihr die Gemeinheit aus dem Gesicht. Sie ist ebenso wie ihre jüngere Schwester Plektrud angewiesen worden, freundlich zu mir zu sein. Das Böse vermag es, sich zu verstellen, die Gemeinheit jedoch vermag es nicht, und so erkenne ich sofort, dass weder die eine noch die andere Gefallen an mir findet. Das ist das Mindeste, das ich suche: Gefallen, Zuneigung. Die dritte, Irmtrud, blickt ihre beiden älteren Schwestern an, als würde sie sie erwürgen wollen, und die beiden ungefähr zehn Jahre alten Zwillinge prügeln mit Fäusten aufeinander ein, kurz bevor ihre Mutter Friedgard mit der flachen Hand auf sie einschlägt. Hat sich mir je ein entsetzlicheres Bild geboten? Fünf meiner Nichten sehen aus, als seien sie von einer Wölfin aufgezogen worden, aber nicht, um zu herrschen, sondern um zu betrügen und zu zerstören. Ich vertraue ihnen nicht. Sie sind grässlich.
    Gerlindis ist die Einzige, die weder mich voller Begehrlichkeiten ansieht, noch ihre Geschwister voller Gemeinheit. Sie hat die Augen niedergeschlagen, und als mein Blick etwas länger auf sie als auf die anderen fällt, reißt ihre Mutter Gerlindis’ Kopf an den Haaren

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