Die Gilde der Diebe
nächste Mitglied der Gilde: Verv. Jonathan blickte sich nervös um und hoffte, dass Verv sich beeilte. Obwohl die Euston Road eine unscheinbare Londoner Durchgangsstraße war, herrschte dort um diese Uhrzeit eine angespannte Stimmung: Rufe von wütenden Betrunkenen, Handgemenge, finstere Gestalten, die sich in Hauseingängen herumdrückten. Alle paar Minuten raste ein Polizeiwagen mit kreischenden Sirenen an ihnen vorbei. Jonathan zog seine Kapuze über den Kopf und versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hallte die Straße von einem Motorengeräusch wider, das wie das Brüllen eines wütenden Drachen klang. Zwei kraftvolle Lichtstrahlen durchbrachen die Dunkelheit und Correlli trat erwartungsvoll zur Seite.
»Da kommt er.«
Das Geräusch wurde lauter und die Lichter heller. Jonathan entdeckte die Silhouette eines Fahrzeugs, das auf sie zuhielt. Was auch immer es war, es bewegte sich schnell .
»Sind Sie sich sicher, dass er anhalten wird?«, fragte er zweifelnd.
»Auf die eine oder die andere Art«, erwiderte Correlli und stellte sich mitten auf die Straße.
»Ist das eine gute Idee?«, rief Jonathan. »Er ist ziemlich schnell …«
Statt einer Antwort zupfte der Feuerschlucker seine Weste zurecht, fuhr sich mit der Hand durch sein volles Haar und stellte sich dem herannahenden Fahrzeug wie ein Stierkämpfer entgegen. Das Auto war nun nur noch hundert Meter entfernt und näherte sich rasend schnell. Jonathan erwartete, dass der Fahrer jede Sekunde bremsen würde, aber zu seinem Entsetzen preschte das Fahrzeug weiterhin vorwärts.
»Er wird immer schneller!«, schrie er. »Er wird Sie umbringen!«
Das Fahrzeug war fünfzig Meter entfernt. Correlli verzog keine Miene und zuckte nicht.
»Aus dem Weg!«
Noch zwanzig Meter. Jonathan konnte nicht mehr hinsehen und schloss die Augen. Er hörte die Bremsen quietschen, aber es war zu spät, viel zu spät. Er spannte jeden Muskel an und wartete darauf, den entsetzlichen Aufprall zu hören. Als nichts passierte, öffnete er die Augen wieder und blinzelte verwundert.
Correlli stand unverletzt mitten auf der Straße. Das Fahrzeug war keine fünf Zentimeter vor ihm zum Stehen gekommen, berührte mit der Stoßstange beinahe seine Schienbeine und lag ihm nun zu Füßen wie ein treuer Hund. Jetzt erst bemerkte Jonathan, dass es ein Taxi war, allerdings eines, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Es war dunkelbraun und die Kotflügel waren mit Flammenmustern verziert. Das Taxi-Schild auf dem Dach war erloschen.
Correlli schlug grinsend auf die Motorhaube.
»Du lässt nach«, rief er dem Fahrer entgegen. »Früher bist du viel näher herangefahren.«
Die Tür öffnete sich und ein schlanker junger Mann mit einer Lederjacke stieg aus. Seine Haare waren zu einem rosa Irokesenschnitt modelliert, der im Licht der Scheinwerfer leuchtete. Er sprach mit einer überdrehten, hellen Stimme.
»Bist alt geworden, Boss. Wollte nicht, dass deine Pumpe durchknallt!«
Er fasste sich theatralisch an die Brust, simulierte einen Herzinfarkt und ließ sich auf die Straße plumpsen.
»Sehr rücksichtsvoll von dir, Verv«, erwiderte Correlli trocken. Verv krümmte sich noch einige Sekunden auf dem Boden und blieb dann regungslos liegen. Er kicherte und hob seinen Kopf.
»Braucht jemand ’ne Mitfahrgelegenheit?«
Hinter dem Steuer war Verv ständig in Bewegung. Während das Fahrzeug durch die Straßen Londons raste, hüpfte er auf seinem Sitz auf und ab, spielte Luftgitarre oder trommelte auf dem Lenkrad und quietschte vor Vergnügen. Jonathan saß wie hypnotisiert neben ihm und starrte auf die Tachonadel, die nie unter hundert fiel. Jede Ampel, an der sie vorbeikamen, war grün, und es gab keine Autoschlangen, die sie aufhielten. Es war, als ob die ganze Stadt für Verv Platz machte. Trotzdem musste Jonathan jedes Mal, wenn sie um die Ecke fuhren, gegen den Drang ankämpfen, sich festzuhalten.
»He! He!«
Verv drehte sich in seinem Sitz und lehnte sich zu Jonathan hinüber. Seine Haare sahen aus wie eine leuchtende Haiflosse.
»Weißt du, was das Beste an Lightside ist?«
Das Taxi steuerte direkt auf einen Obdachlosen zu, der gerade über die Straße wankte. Jonathan wedelte panisch mit der Hand.
»Pass auf den Typen auf!«
Ohne seine Augen von dem Jungen abzuwenden, drehte Verv am Lenkrad und fuhr elegant um den Obdachlosen herum.
»Teer!«, jauchzte er und trommelte gegen das Dach. »Ich liebe Teer!«
Er trat das Gaspedal durch und das
Weitere Kostenlose Bücher