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Die Gilde der Diebe

Titel: Die Gilde der Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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hindurch.

12
    Für Raquella fühlte es sich an wie der längste Nachmittag ihres Lebens. Sie kauerte auf einem Stuhl in Carnegies Wohnung und starrte auf die Standuhr, in der Hoffnung, der Minutenzeiger möge schneller das Ziffernblatt umrunden. Bevor die Abendvorstellung des Zauberers Mountebank in »Kinskis makaberem Theater« begann, konnten sie nichts unternehmen. Trotzdem hatte Raquella förmlich das Gefühl, sie könne die Zeit wie den Sand einer Sanduhr verrinnen hören. Das Ende der Frist rückte immer näher, und es schien töricht, auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Am liebsten wäre sie aufgestanden und einfach raus auf die belebte Straße gegangen, um etwas, irgendetwas, zu tun. Jonathan hatte wenigstens sofort nach Lightside zurückkehren können. Er musste nicht einfach nur warten.
    Dagegen war Carnegie ein Bild der Ruhe. Er hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und blätterte in einem Groschenroman. Auf dem reißerischen Titelbild prangte in roten Lettern der Titel »Grausige Geschichten vom sprunggewaltigen Jack«. Hin und wieder entfuhr dem Wermenschen ein kehliges Lachen. Als Raquellazum wiederholten Mal an diesem Nachmittag seufzte, blickte er auf.
    »Es hat keinen Sinn, sich aufzuregen«, brummte er. »Zweifelsohne werden wir noch früh genug in tödlicher Gefahr schweben.«
    »Das wäre doch mal eine willkommene Abwechslung! Alles ist besser als diese Warterei. Es ist schon Samstag, Carnegie. Wir haben nur noch fünf Tage, um Vendetta den Stein zu besorgen.«
    »Was bedeutet, dass wir noch eine Menge zu tun bekommen werden. Bis dahin solltest du versuchen, dich zu entspannen.« Carnegie stützte sich auf einen Arm und deutete mit dem Heft auf seine Gemächer. »Verstehst du nicht? Herumsitzen und Warten ist der schöne Teil. Der Teil mit dem Kämpfen und fast Draufgehen, das ist der schlechte. Bring das bloß nicht durcheinander.«
    »Wahrscheinlich hast du recht.« Sie deutete auf den Groschenroman. »Gute Lektüre?«
    Der Wermensch schnaubte.
    »Fürchterlicher Blödsinn. Aber immer noch besser, als auf die Uhr zu starren. Willst du das nach mir lesen?«
    Raquella schüttelte den Kopf.
    »Wenn es alles das Gleiche ist, dann bleib ich lieber angespannt.«
    »Wie du willst.«
    Carnegie vertiefte sich wieder in seinen Groschenroman und las, bis ihm die Augenlider zufielen und er einschlief. Das Heft glitt ihm aus der Hand und landeteauf seiner Brust, wo es sich mit seinem mächtigen Brustkorb hob und senkte. Um neun Uhr ging die Sonne unter und die Schatten im Zimmer wurden länger. Raquella schüttelte ihn behutsam wach.
    »Es ist so weit«, flüsterte sie.
    Die Zähne des Wermenschen leuchteten in der Dämmerung.
    »Dann lass uns aufbrechen und dem Zauberer den Arm verdrehen.«
    Er erhob sich wie ein Geist und marschierte zur Eingangstür. Draußen entflohen sie der heruntergekommenen Fitzwilliam-Straße und betraten die breiten Bürgersteige der Hauptstraße. Es war noch früh auf Darksides brodelnder Hauptschlagader, und es würde noch einige Stunden dauern, bis der erste Streit entbrannte, die ersten Fäuste flogen und die ersten Rechnungen beglichen wurden. Trotzdem waren die Bürgersteige mit Menschen überfüllt, die in der dampfenden Sommerhitze schwitzten und deren ungestüme Rufe von den Häuserwänden widerhallten. Vor dem »Letzten Abendmahl« kam eine kunstvoll verzierte Kutsche mit quietschenden Bremsen zum Stehen und spuckte eine Gruppe beleibter und elegant gekleideter Gäste aus, die rasch ins Innere des Restaurants eilten, bevor man sie ausrauben konnte. In der Gosse vor der »Blutspielbank« hielt ein alter Mann seine letzte blutverschmierte Münze hoch und wimmerte leise vor sich hin. Aus den Eingeweiden des »Irren-Clubs« drang der misstönende Klageklang einer einsamen Violine.
    Im Laufe der Jahre hatten sowohl Carnegie als auch Raquella einen gewissen Bekanntheitsgrad in Darkside erreicht, und so drehten sich mehrere Köpfe nach ihnen um, als sie die Hauptstraße entlanggingen. Sie gaben ein seltsames Paar ab, der hochgewachsene, heruntergekommene Privatdetektiv und das zierliche, zielstrebige Dienstmädchen. Dennoch sahen beide nach Ärger aus. Carnegie war sich des Getuschels bewusst, das wie Meeresrauschen anschwoll, und knurrte jeden an, der dumm genug war, sie mit zu großer Neugier zu betrachten.
    Da sie befürchtete, dass das Temperament des Wermenschen jederzeit mit ihm durchgehen könnte, war Raquella erleichtert, als »Kinskis makaberes Theater« vor

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