Die Gilde der Diebe
hingen schlaff an ihrem Körper herab. Sie sah aus wie hypnotisiert.
»Raquella, ich flehe dich an!«, schrie Jonathan. »Du musst dich bewegen! Es kommt!«
Ein leises Stöhnen kam dem Dienstmädchen über die Lippen, aber es bewegte sich nicht.
Xavier war nun nur wenige Meter unter ihnen. Die Kreatur machte aufgeregt klappernde Geräusche. Wo war bloß Correlli? Die Spinne verharrte an einer Stelle, an der sich zwei Stränge kreuzten, und spuckte plötzlich eine grüne Flüssigkeit aus. Ein Teil davon landete auf einem Strang unter Jonathans Füßen, und die Seide begann, Blasen zu werfen und sich aufzulösen. Jonathan wollte sich zu einem anderen Teil des Netzes hangeln, aber es war zu spät: Der Strang gab nach und seine Füße verloren den Halt. Instinktiv versuchte er, einen anderen Strang über seinem Kopf zu packen, aber er baumelte hilflos in der Luft. Xavier verzog das Gesicht, grinste ihn hungrig an und holte zum vernichtenden Schlag aus.
20
»Lass dich fallen, Junge!«
Die Kammer erzitterte unter dem Klang von Elias Carnegies rauer Stimme. Der Wermensch war die Treppe heruntergestürmt und rannte nun quer durch den Raum. Seine schwarze Kleidung war zerrissen und sein Gesicht blutete. In seiner rechten Hand trug er einen antiken Speer.
Jonathan konnte zwar durch das Gewirr der Seidenstränge den Boden unter sich nicht sehen, aber er wusste, dass er so hoch oben war, dass er einen Sturz wahrscheinlich nicht überleben würde. Die Spinne krabbelte näher an ihn ran und spuckte einen weiteren Schwall der giftigen Masse aus, der sein Ohr nur knapp verfehlte. Eines war sicher: Wenn er hier oben blieb, war er ein toter Mann. Er musste Carnegie vertrauen.
»Ich komme wieder!«, rief er Raquella zu und ließ sich fallen.
Als Jonathan mit flatternden Armen und Beinen durch die Luft segelte, kreischte Xavier vor Wut. Nach einer gefühlten Ewigkeit landete er krachend in einem Stapel schmutzig-weißer Objekte, die unter seinem Gewichtknackend zusammenbrachen. Jonathan verharrte noch eine Sekunde. Er war unfähig, sich zu bewegen. Der Aufprall hatte die Luft aus seinen Lungen gepresst und sein rechtes Bein schmerzte, aber er war am Leben. Als er sich umsah, bemerkte er, dass die schmutzig-weißen Objekte eine Ansammlung von überdimensionalen Schalen waren. Er griff nach einer davon. Sie hatte die Form eines langen Insektenbeins. Sein Magen drehte sich um, als ihm klar wurde, dass ihm ein Haufen abgestreifter Häute der Spinne das Leben gerettet hatte.
Er rollte sich vorsichtig, so schnell wie sein geschundener Körper es zuließ, zur Seite und stand auf. Carnegie hatte inzwischen die Kammer durchquert und zerrte am Netz, um die Spinne von Raquella fortzulocken.
»Komm her, du zu groß geratene Wanze!«, fauchte er.
Im Gegenzug spuckte die Spinne eine weitere Ladung der ätzenden Flüssigkeit aus, die in der Nähe des Wermenschen auf den Boden platschte. Dann sprang sie ohne Vorwarnung aus dem Netz in die Tiefe. Der Wermensch hechtete zur Seite. Xavier landete mit einem dumpfen Schlag. Seine zahlreichen Beine federten den Aufprall ab.
Der Wermensch ging einen Schritt zurück. Seine Schultern zitterten und er sank auf die Knie. Das Biest in Carnegie übernahm die Kontrolle über seinen Körper. Die Spinne stürzte sich auf ihn und schlug ihm mit einem Bein den Speer aus der Hand, der quer über denBoden rollte. Carnegie heulte vor Wut auf, holte aus und zielte mit einem mächtigen Hieb auf die Augen der Kreatur.
Während die beiden Bestien miteinander rangen, humpelte Jonathan durch die Kammer und holte den Speer. Er schien eine weitere von Xaviers Antiquitäten zu sein: ein einfacher Holzschaft mit primitiven Verzierungen und einer scharfen Eisenspitze am Ende. Jonathan hoffte, dass dies als Waffe zu gebrauchen war.
Obwohl Carnegie wie ein verwundetes Tier kämpfte, war ihm Xavier durch sein schieres Gewicht und die Anzahl seiner Beine überlegen. Als Jonathan zu ihnen zurückschlich, hatte die Spinne es geschafft, die Arme des Wermenschen zu Boden zu drücken und ihre Beine um seinen Brustkasten zu wickeln. Carnegie hörte auf zu knurren und blickte Xavier herausfordernd in die Augen.
Xavier warf den Kopf zurück und bereitete sich darauf vor, Carnegie mit seinem Gift zu ertränken. In diesem Moment schnellte Jonathan vor und rammte der Spinne den Speer in den ungeschützten Bauch. Die Kreatur bäumte sich vor Schmerz auf und stieß dabei einen schrillen Schrei aus, der weder menschlich noch tierisch
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