Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
begann, sich von dem Schock über das unerwartete Eintreten eines ungestümen Knappen zu erholen. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, und ihr Haar war zerzaust. Ihre Hasenzähne standen in dem trüben Licht vor, ein Fanal ihrer Seltsamkeit. Hal sah zu der zerknüllten Zeichnung der Gehörnten Hirschkuh, und er schaute zu dem Stapel Pergament, den auf unheimliche Weise gut gezeichneten Porträts der Götter.
Er brauchte Berylinas Mitgift. Jetzt. Er brauchte sie an seiner Seite, um seine Linie zu sichern, um ihm einen Erben zu gewähren. Nur mit dieser Sicherheit konnte er sich vorstellen, sich gegen die Gefolgschaft zu behaupten. Nur so gestützt, konnte er den Status fordern, den er innerhalb ihrer Reihen ersehnte, den Status, der ihn – paradoxerweise – vor Skandalen schützen würde. Denn er würde innerhalb der Gefolgschaft vorankommen. Wenn nicht dieses Jahr, dann im nächsten oder im Jahr danach. Wenn sein eigenes Haus in Ordnung gebracht war. Wenn seine eigene Linie etabliert war. Sicher war.
Er rollte das rätselhafte Pergament fest auf und schob es wieder in die Röhre. »Lord Farsobalinti?«
»Ja, Euer Majestät?«
»Überlassen wir diese guten Ladys ihren Zerstreuungen. Ich kehre in meine Räume zurück. Bitte sorgt dafür, dass Lady Rani und Lady Mair mich sofort aufsuchen. Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, Prinzessin Berylina.«
Ein anderes Mädchen hätte ihm seinen Aufbruch vielleicht übel genommen. Eine andere Prinzessin hätte vielleicht verlangt, dass er mit ihr spräche, dass er einen trüben Nachmittag mit höfischem Spaß und Spiel vertriebe. Eine andere Braut hätte sich vielleicht geweigert, ihn gehen zu lassen, zuzulassen, dass er sich mit Ladys seines Hofes traf.
Berylina sah ihn jedoch nur erschöpft und ein wenig erleichtert an. »Natürlich, Euer Majestät.« Sie trat zu ihrer Staffelei, nahm die blutrote Kreide auf und begann zu zeichnen, noch bevor Hal den Raum verlassen hatte.
9
Mareka Octolaris lehnte den Kopf ans kühle Fenster. Regen rann in Streifen die Scheiben hinab, welche die Hitze aus ihrem geröteten Gesicht zogen. Sie schloss gegen die silberne Helligkeit die Augen und ermahnte sich, tief durchzuatmen, ein wenig des Feuers auszuatmen, das in ihrem Blut brannte. Der Octolarisnektar, den sie gerade gekostet hatte, war stark, fast zu stark.
Sie hatte den Trank kräftiger gebraut, als sie es in der Spinnengilde je gewagt hätte. Dort hätten Meister sie daran erinnert, dass sie nur ein Lehrling war, dass sie nicht das Können besaß, mit den größten Dosen verdünnten Octolarisgifts umzugehen. Aber hier, in Liantine, musste sie mit den mächtigsten Spinnen umgehen, die die Gilde je gekannt hatte.
Mareka hob den Kopf, und das Blut in ihren Wangen flammte heißer auf. Die zarte Stickerei ihres Armbandes versengte ihre Haut. Sie hatte beschlossen, das Symbol einer Spinnengilden-Gesellin anzulegen, wenn auch nur heimlich, unter ihrem formellen Gewand. Es war immerhin nicht ihre Schuld, dass sie von ihrer Prüfung ausgeschlossen worden war. Jerusha hatte das Sklavenmädchen in den Tod befohlen. Serenas Giftmord war nicht Marekas Werk.
Zitternd trat Mareka zum Kaminsims über der Feuerstelle hinüber. Ein Krug mit kaltem, klarem Wasser stand auf dem Holzregal. Mareka füllte ihren Tonbecher vorsichtig, um nur ja keinen Tropfen des kühlen Nass zu verschütten. Sie drehte den Becher, so dass sich all die perlmuttartige Flüssigkeit am Boden, die Überreste des Nektars, im Wasser lösten. Sie trank das Wasser und untersagte es sich, sich von den schimmernden, silberfarbenen Mustern, die der Nektar im Becher hinterlassen hatte, ablenken zu lassen. Sie spülte den Becher noch zwei Mal aus und schluckte gierig, um den Durst zu stillen, der in ihrer Kehle wütete.
Da. Die Macht des Nektars strahlte von ihrem Bauch aus wie ein Spinnennetz. Sie stellte den Becher neben den Krug und achtete darauf, ihn genau zu platzieren. Wenn sie nicht vorsichtig war, würde sie sich zu rasch bewegen. Sie würde den Becher vom Kaminsims ziehen und ihn auf den Boden fallen lasen. Sie konnte den Nektar kontrollieren. Sie konnte sich kontrollieren.
Sie hatte immerhin acht Jahre Lehrzeit in der Spinnengilde abgeschlossen.
Wenn Mareka erst Gesellin wäre, würde sie in allen feineren Nuancen des Spinnennektars ausgebildet. Sie würde das Spinnengift mit immer komplexeren Tränken mischen, so dass sie mehr tat, als sich nur gegen das gefährlich glänzende Gift zu immunisieren. Meister in der
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