Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
obere Eingang zur Treppe war in einem Kleiderschrank verborgen.
Als Kind hatte sie vor diesem Schrank Angst gehabt. Er war in den Gemächern der Königin verborgen, in der Reihe von Räumen, die Königin Felicianda verdorben hatte. Ranis Phantasie war stets übergebordet. Sie hatte sich vorgestellt, dass der Zorn der königlichen Verschwörerin die Räume, in denen sie gelebt hatte, noch immer heimsuchte. Hal hatte sie einmal geneckt und erklärt, dass der Geist der morenianischen Königin, selbst wenn er noch verharrte, wohl kaum in einem Schrank weilte.
Rani schüttelte den Kopf. Nun hatte sie vor größeren Dingen Angst als vor irgendwelchen eingebildeten Geistern. Sie wurde von erschreckenderen Bildern heimgesucht, von gefährlicheren Bedrohungen. Sie wurde von den Lebenden geplagt.
Wie unter einer nervösen Zuckung griff sie in ihre Tasche. Das Fläschchen war da, verspottete sie mit seinem kaum wahrnehmbaren Gewicht.
Rani musste den Atem anhalten, bevor sie hier die Pilgerglocke hören konnte. Sie befand sich tief im Palast, hinter Steinmauern geschützt, die auch den entschlossensten Eindringling fernhalten sollten. Aber die Männer, welche die Festung gestalteten, hatten nicht mit Verrat in ihren eigenen Reihen gerechnet. Sie hatten nichts getan, um die Königin vor jemandem zu beschützen, der die Feste bereits frei durchstreifen konnte.
Mit einer Hand an der Tür, die zu Marekas Schlafzimmer führte, zögerte Rani. Es waren Wächter im äußeren Gang. Wenn die Königin sie umherschleichen hörte, könnte sie mit einem einzigen Schrei Hilfe herbeirufen.
Rani hatte diese Wächter vor einem Leben auch selbst gerufen. Als sie dreizehn Jahre alt war, als sie im Palast des Ersten Pilgers eintraf. Sie hatte unter den wachsamen Augen eines Wächters gewütet, ein unerschütterlicher Soldat, der ihr auf Schritt und Tritt gefolgt war und sie davon abgehalten hatte, Kontakt zu ihrem Bruder aufzunehmen. Wie hieß der Mann noch? Mercu…? Mardo…?
Sie seufzte. Sie machte Ausflüchte. Sie verzögerte das Unausweichliche. Der Soldat war tot, genauso wie das dreizehnjährige Mädchen, das alle Wächter des Haushalts herbeigerufen hatte, indem es enttäuscht gejammert hatte. Der Verschwörer Larindolian, der alte König, die alte Königin… alle waren tot.
Nun war Mareka die Königin. Nun schlief Mareka auf der anderen Seite der Tür. Nun musste Mareka ihrem Schicksal begegnen, einer von Ranis Händen gebrachten Zukunft. Während ihre Fingerspitzen erneut das Fläschchen berührten, hob Rani den Riegel an.
Marekas Schlafzimmer war ebenso warm wie der übrige Palast, von der schweren Sommerluft ebenso drückend. Die Königin hatte die Fenster weit geöffnet, um jegliche Spur einer Brise einzufangen. Ein Strahl Mondlicht beleuchtete die Stufen zum Fenster, zu dem schmalen Balkon. Rani zitterte, als sie daran dachte, wie die Königin gestürzt war, daran, wie die schwangere Frau an den scharfkantigen Tisch gestoßen war. Sie erschauderte, als sie an die beiden weiteren, für Morenia verlorenen Erben dachte.
Die Bodendielen waren sauber gefegt. Die schweren Eichenplanken lagen glatt da. Kein Balken knarrte, als Rani voranging, kein Brett beklagte sich, als sie zu dem verhangenen Bett schlich.
Da. Auf dem kleinen Tisch. Ein einzelner Becher schimmerte im Mondlicht, fahl wie der Bauch eines Fisches. Ein Krug stand daneben.
Rani hatte sich über die Wirksamkeit ihres Plans gesorgt. Was wäre, wenn jemand anderer aus dem Becher trank? Was wäre, wenn jemand anderer den Inhalt des Kruges kostete? Was wäre, wenn jemand anderer das verstöpselte Fläschchen fand?
Sie hatte sich jedoch davon überzeugt, dass keiner dieser Gedanken wichtig war. Die Nächte waren heiß. Der Morgen kam früh. Die Königin wäre durstig. Mareka war im Herzen eine Gildefrau, keine verhätschelte Adlige. Sie würde sich selbst etwas zu trinken eingießen und den Becher austrinken. Warum standen diese Gegenstände sonst an ihrem Bett? Wenn sie erwartet hätte, bedient zu werden, hätte sie sie bei den Dienstboten gelassen.
Genug. Es war an der Zeit, dass Rani handelte. An der Zeit, den letzten Teil ihres Plans auszuführen.
Sie griff in ihre Tasche. Sie nahm das Fläschchen hervor. Sie hielt es in der linken Hand und drehte es, so dass es das silbrige Mondlicht einfangen konnte. Sie hob einen Fingernagel unter den Rand des Korkens, zog ihn auf sich zu, nahm ihn ab. Sie biss sich auf die Zunge, hielt den Atem an.
Und sie trat einen Schritt
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