Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
gespritzt, und sie war zurückgeschreckt. Crestman hatte sich jedoch recht klar ausgedrückt. Mareka musste das Gift trinken, damit es ihr schadete. Rani würde von einem Tropfen auf ihrer Haut wahrscheinlich keinen Schaden davontragen.
Nun stellte sie das Fläschchen auf das Querholz des Betpultes und faltete in sorgfältiger Gebetshaltung die Hände darüber. Welcher der Götter würde ihren Ruf heute Abend hören? Welcher der Götter war dafür zuständig, einer widerwilligen Mörderin zuzuhören?
Tarn schien eine zu leichte Wahl, aber Rani rief ihn dennoch an. »Heil, Tarn. Höre dieser armen Pilgerin zu, und gewähre ihr ihre Bitte. Wache über sie, und sei ihr gnädig. Heil, großer Tarn.«
Augenblicklich erklang das Rascheln grün-schwarzer Schwingen, auch wenn ihre Worte gestelzt klangen. Das kleine Fläschchen schien unter ihren Fingern zu wachsen, sich auszuweiten, bis sie jede Unebenheit, jede Windung in seiner unvollkommenen Form spüren konnte. Staubige Stücke Kork klebten noch immer an der Öffnung des Behälters, und sie wischte sie zögernd fort, sich der Flüssigkeit darin bewusst.
»Heil, Tarn«, begann sie erneut, nur um innezuhalten, als das grün-schwarze Schimmern sie zu überwältigen drohte.
Was war in jenem Kurienraum geschehen? Rani erinnerte sich der Ekstase, die sich auf dem Gesicht der Prinzessin ausgebreitet hatte, ihrer Sicherheit, als sie von den Göttern sprach. Berylina hatte eindeutig gewusst, dass sie in dem Raum bei ihr waren, dass sie sie umgaben. Die Prinzessin hatte sie gesehen. Sie erfand für die Kurienpriester keine Geschichten. Sie hatte für die religiöse Körperschaft nicht übertrieben.
Und mitten in der Prüfung hatte Rani gedacht, dass tatsächlich auch sie sich der Götter um sie herum bewusst sein könnte. Sie konnte sich der Macht erinnern, die sie während ihrer Hypnose mit Berylina empfunden hatte, ihrer Sicherheit, dass die Götter in ihren Ohren, in ihrem Mund, in ihrer Nase und ihrer Haut anwesend waren. Sie hatte die Götter genauso gespürt, wie Berylina es getan hatte.
Oder bildete sich Rani jene Gegenwarten nur ein? Waren sie Teil der Krankheit, die sie seit ihrer Ankunft in Brianta verfolgt hatte? Waren sie ein Ausdruck von Hoffnung, von Verlangen, von verzweifeltem Sehnen danach, das Schicksal der armen Berylina zu teilen?
Oder waren sie – noch erschreckender – real? Waren die Götter mit den seltsamen Auswirkungen zu Rani gekommen, die Berylina gekannt hatte?
Rani neigte den Kopf, ermahnte sich, sich auf das vorliegende Gebet zu konzentrieren. Sie versuchte, zu Roat und Arn und Fen zu sprechen. Aber keiner der Götter schien in ihrer Nähe zu sein. Keiner schien ihr zuzuhören. Gerechtigkeit, Mut und Gnade waren ferne Vorstellungen. Ranis Finger um das Glasfläschchen wurden rutschig. Der Behälter schien eigene Hitzestrahlen auszusenden.
Unter anderen Umständen wäre Rani dankbar gewesen. Es war so lange her, seit sich ihre Knochen warm angefühlt hatten, so lange her, seit sie einen Atemzug getan hatte, ohne den Drang zu zittern unterdrücken zu müssen. So lange her, seit es ihr gut gegangen war.
Nach heute Nacht hätte sie Zeit zu genesen. Nach heute Nacht wären die Drohungen der Gefolgschaft von ihr genommen. Laranifarso würde zurückgebracht, und sie könnte zu der ernsthaften Arbeit, Moren zu unterstützen, Hal zu unterstützen, zurückkehren. Er würde sie natürlich brauchen. Er würde sich mehr auf sie verlassen, wenn Mareka erst tot wäre.
Das Leben in Moren könnte zu den alten Mustern zurückkehren, zu den Bräuchen und Traditionen vor dem Feuer. Vor Berylina und Mareka. Das Leben könnte wieder einfach sein.
Rani gab das Beten auf. Sie stützte sich am Betpult ab, um aufzustehen. Ihre Knie schmerzten, als sie sich aufrichtete, und ihre Gedanken wandten sich jäh acht Jahre alten Erinnerungen zu. Als junge Glasmalerin hatte sie viel Zeit damit verbracht, zu Sorn zu beten, dem Gott des Gehorsams, und zu Plad, dem Gott der Geduld. In die Gebetsbänke der Glasmaler waren die Symbole ihres Handwerks eingeprägt. Deren Abdrücke hatten Ranis Knie häufiger geziert, als sie sich erinnern mochte.
Jene Gebetspulte im alten Gildehaus waren vernichtet worden. Vielleicht hatte Parion für das Haus in Brianta neue bauen lassen. Seltsam, dass Rani keines gesehen hatte, während sie in Jairs Heimatland war. Seltsam, dass sich die Gilde nicht mehr an die Götter zu halten schien. Seltsam, dass sich die Glasmaler selbst in ihrem neuen
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