Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
merken, und las sie dann noch einmal.
Und dann reichte er sie ihr.
Ihre Finger zitterten, als sie das Pergament entgegennahm. Dahin war es also mit ihrem Gildeleben gekommen. Neun Jahre Arbeiten als Lehrling und sich Bemühen als Gesellin. Drei Monate Arbeiten in einer fremden Stadt, um ein Meisterstück zu gestalten. Ein Tag des Erschaffens der Realität nach dem Bild in ihrem Geist. Ein Moment des Wartens, um das Urteil zu lesen. Sie entrollte das Pergament und hielt es näher heran, neigte es, um das Licht besser einzufangen, um die winzigen, perfekten Buchstaben zu erkennen.
Die Glasmalergilde bedauert, die Arbeit von Ranita Glasmalerin nicht als der Qualität eines Meisters entsprechend beurteilen zu können, da sie sich auf nicht von der Gilde gebilligte Werkzeuge verließ.
Nicht von der Gilde gebilligt! Meister Parion hatte zugesehen, wie sie ihr Diamantmesser aufnahm! Er hatte ihr durch ein Nicken zu verstehen gegeben, dass sie weitermachen sollte. Er hatte sie ihre Werkzeuge benutzen sehen und hatte nichts gesagt, nichts getan – er hatte sie in keiner Weise gestoppt.
Rani wusste, dass sie atmen musste, sprechen musste, irgendetwas tun musste, um den Bann der Nachricht in ihrer Hand zu brechen. All diese Zeit des Arbeitens im Gildehaus… All diese Stunden des Farbenmahlens, des Glasplatten Fertigens… All diese damit verschwendete Zeit, Metall zu Folie zu hämmern…
Fort. Wertlos. Verschwendet.
Rani schaute zu den Himmlischen Gefilden auf, wollte gegen die Tausend Götter anschreien. Warum hassten sie sie so? Warum hatten sie sie im Stich gelassen?
Während sie himmelwärts blickte, wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Fenster in der Kathedralenmauer hoch über ihr angezogen. Es war das neueste des dortigen Buntglases, und doch war es bereits über acht Jahre alt. Es wies einen Hintergrund aus Kobaltblau und eine einzelne, zarte Gestalt auf, die hervorgehoben und mit bleischwarzer Punktierung betont wurde. Rani kannte das Muster selbst jetzt, über acht Jahre nach seiner Vollendung, noch ebenso gut, wie sie die Linien ihrer Hand kannte.
Das Fenster des Verteidigers. Das Muster, mit dem ihre seltsame Reise begonnen hatte. Das Fenster, das Ausbilderin Morada an jenem schicksalhaften Tag gerade fertiggestellt hatte, als Rani das Gerüst erkletterte, dann die Kathedrale betrat, aufschrie und Prinz Tuvashanoran damit in seinen Tod rief.
Nun stand das Fenster über ihr wie ein strenger Elternteil, der ein ungezogenes Kind ermahnt. Rani blinzelte und erinnerte sich plötzlich, wie sie auf dem Hof der morenianischen Glasmalergilde stand und die Brennöfen schürte. Sie war ein treuer Lehrling gewesen. Sie war eine ergebene Gesellin gewesen. Sie hatte alle Fähigkeiten erlernt, die von einem Meister erwartet wurden.
Sie hatte mit der Gildeprüfung ihre Zeit verschwendet. Sie hätte ein Haus ignorieren sollen, das seit Jahren gegen sie eingestellt war.
Die Gilde war immerhin mehr als nur ihre Teile. Sie war mehr als nur ein verbitterter Meister, mehr als nur Gesellen, die mit ledernen und seidenen Handprothesen arbeiteten. Die Glasmalergilde war ein Ideal – eine Gemeinschaft von Gelehrten und Künstlern, die sich zusammengetan hatten, um Werke der Schönheit zu erschaffen.
Sie war eine Erinnerung, und sie konnte eine Zukunft sein. Rani konnte sie hier aufbauen, in Moren, selbst wenn sie nicht den Segen der alten Meister hatte. Gewiss gab es Glasmaler, die zu ihr kommen würden! Es gab Gildeleute, die gegen die ungerechte Art des briantanischen Klüngels rebellieren würden.
Sie hatte sich in Brianta Freunde gemacht. Vielleicht könnte sie sogar Belita und Cosino ermutigen, sich ihr hier in Moren anzuschließen.
Es gab andere Glasmaler dort draußen, andere, die Rani rufen könnte. Sie könnte ihr eigenes Gildehaus aufbauen. Sie könnte sich ein neues Leben gestalten. Sie wandte sich an Hal, bereit, ihm von ihrer Entdeckung zu erzählen, bereit, ihren Schwur darauf zu leisten, eine zukünftige Gilde zu errichten, frei von dem verderblichen Einfluss Meister Parions, frei von der Geschichte der alten Meister.
Erst da erkannte sie, dass um sie herum Aufruhr herrschte, ein Lärm, der über das Pochen ihres Herzens und das Knistern des Scheiterhaufens hinweg erklang. Mair lag auf den Knien, eine Woge Spinnenseide auf dem Gras um sie herum. Farso kniete neben ihr, wollte sie umarmen, ihren rasenden Kummer aufnehmen.
Die Unberührbaren-Frau wehrte ihren Ehemann jedoch wie ein verletztes Tier ab.
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