Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Hal sah sie an, seine dunkelbraunen Augen voller Sorge.
Plötzlich ragte Pater Siritalanu über ihr auf, schloss die Sonne aus. Rani konnte seine grünen Gewänder erkennen, die unglaublich frisch wirkten. Der Priester nahm ihren anderen Arm, bot ihr immense Unterstützung. »Bleibt ruhig, Mylady. Das Laudanum kann in der Sommerhitze überwältigend wirken.«
»Es war nicht das Laudanum«, protestierte sie. Die Mühe zu sprechen ließ sie tief einatmen. Zumindest kehrte sie zu annähernder Normalität zurück.
»Natürlich war es das. Ihr kennt die Art der Priesterschaft. Ihr wisst um die Bemühungen, die wir unternehmen, um Leichname zu reinigen, damit sie die Götter erfreuen.«
»Ich kenne den Geruch von Laudanum, Pater, und das war es nicht. Ich habe Vir geschmeckt.«
»Still!« Der Priester sah sich um, als befürchte er, die briantanische Kurie sei ins unmittelbare Herz Morenias eingedrungen.
Rani bemerkte Hals neugierigen Blick. Sie beobachtete, wie sich Fragen auf seinen Lippen bildeten. Sie würde später erklären müssen. »Ihr könnt die Wahrheit nicht zum Schweigen bringen, Pater. Als Berylina und ich die Hypnose durchführten…«
»Das war mein Fehler«, zischte der Priester. »Ich hätte ihrer Bitte niemals nachgeben dürfen. Ich hätte Euch beide in dieser Zelle niemals Eure Spiele spielen lassen dürfen.«
Der Widerstand des Priesters verlieh Rani Kraft. Als sie ihr Rückgrat streckte, erkannte sie kaum, dass sie zum ersten Mal seit Tagen einen kräftigen Atemzug tat. »Berylina Donnerspeer spielte keine Spiele, Pater. Sie hatte etwas Neues und Mächtiges beherrschen gelernt. Sie kannte die Götter auf Arten, die wir uns nur vorstellen können, auf Arten, die ich erst annähernd begreife.« Pater Siritalanu wollte sie unterbrechen, aber Rani stellte ihn mit einer fest auf seinen Arm gelegten Hand ruhig. »Nein, Pater. Sprecht hier nicht gegen sie. Nicht an ihrem Scheiterhaufen. Denkt stattdessen an die Lektionen, die sie uns gelehrt hat, die Fülle, die sie gebracht hat. Berylina wohnte Stärke inne. Ihr wohnte Kraft inne. Ihr wohnte die Gunst all der Tausend Götter inne.«
Der Priester hatte vielleicht antworten wollen, aber er bekam keine Gelegenheit dazu. Stattdessen wurde er von einem Edelknaben unterbrochen, der auf das Kathedralengelände lief. »Euer Majestät!«, rief der Junge, und seine Stimme klang schrill.
Ranis Herz verkrampfte sich in ihrer Brust. Es gab keinen guten Grund, warum ein Bote die Huldigung an einem Begräbnis-Scheiterhaufen unterbrechen sollte.
Hal wandte sich dem Kind zu. »Ja?« Dem Wort lag eine Wüste von Befehlen zu Grunde. Das Kind versank in eine Verbeugung, berührte mit der Stirn tatsächlich ein karmesinrot bekleidetes Knie, bevor es sich jäh wieder aufrichtete.
»Sire, der Stallmeister hat mich geschickt! Es sind zwei Nachrichten eingetroffen!«
»Zwei?«
»Ja! Zwei Brieftauben, die innerhalb von zehn Herzschlägen nacheinander eintrafen!« Die Augen des Jungen glänzten vor Aufregung. Er bot zwei kleine Metallröhren dar, barg sie in seinen Händen, als wären sie aus wertvollem Edelstein gestaltet.
Rani erkannte jäh, dass sie noch immer Mairs Arm umklammerte. Sie hatte in Brianta bei Meister Parion eine Brieftaube hinterlassen. Wochen waren vergangen. Die Glasmalergilde hatte gewiss ihre Beurteilung beendet… Sie hatten die Meisterstücke der Gesellen gewiss bewertet. Sie hatten gewiss die Kraft gefunden zu handeln, abseits und getrennt von der Gefolgschaft, von Crestmans Drohungen.
Rani richtete sich bewusst auf, um Luft in ihre Lungen aufzunehmen, zuzusehen, zuzusehen, zu warten, während Hal sich mit einer der Metallröhren zu schaffen machte.
Ein Streifen Pergament war darin, so dünn geschabt, dass er kleinstmöglich eingerollt werden konnte. Hal nahm den Streifen heraus und entrollte ihn vorsichtig, achtete darauf, ihn nicht auf das grüne Gras des Kathedralengeländes fallen zu lassen. Er betrachtete ihn und hielt ihn näher an sein Gesicht. Er begann zu lesen, hielt dann inne und drehte ihn um. Er blinzelte heftig und führte das Pergament noch näher.
Rani wartete wie erstarrt. Sogar das Schaudern, das ihren Körper ständig zu durchlaufen schien, war anscheinend zum Stillstand gekommen. Sie konnte ihr Herz eintausend Meilen entfernt schlagen hören. Sie beobachtete Hals Gesicht, wartete darauf, dass er mitleidig die Stirn runzeln oder freudig die Lippen kräuseln würde.
Er las die Nachricht erneut, als wollte er sie sich
Weitere Kostenlose Bücher