Die Gilden von Morenia 05 - Die Meisterschaft der Glasmalerin
die Götter schon zuvor geschmeckt zu haben. Sie glaubte, sie hätte sie gehört und gerochen. Sie glaubte, sie hätte sie mit jedem Zoll ihrer Haut gespürt, sie hätte jegliche Vision gesehen, die sie ihr vermitteln konnten.
Aber sie hatte sich niemals die Kraft all der Tausend auf einmal vorgestellt. Sie hatte sich niemals die Macht vorgestellt, die sich in ihr, um sie herum erheben würde.
Ihr Körper war Feuer. Ihr Körper war Licht.
Das Seil, das sie gewürgt hatte, wurde fortgebrannt, verschwand in den Schatten. Sie war frei. Sie befand sich jenseits der Grenzen ihrer Sinne. Sie erkannte die Gegenwart der Tausend mit ihrem gesamten Körper, ihrem gesamten Geist, ihrer gesamten Seele. Sie war von den Grenzen der Klänge und Geschmäcker, Bilder und Gerüche und Empfindungen befreit, die sie in ihrer Vergangenheit beschränkt hatten.
Ohne die Augen zu öffnen, erkannte sie den Raum um sich herum. Sie erkannte die Mitglieder der Gefolgschaft, die von der ungeheuren Energie bewusstlos geworden waren, die von der sich wölbenden Steinmauer abstrahlte und über Ranis ehemals menschlichen Körper hinwegtoste.
Sie wurde zum Kathedralenheiligtum über sich, wurde zu den bebenden Mauern, zum Glas, das in seinen Halterungen erzitterte, und zu den Bleiplatten, die sich unter dem Druck krümmten.
Sie war die Pilgerglocke, die durch die bebende Erde zum Läuten gebracht wurde und dröhnte, als stürzten alle Wölfe der Welt die Hügel hinab auf Moren zu.
Sie war das Meerwasser, das die Luft über dem Hafen durchtränkte, in Regenbogen schimmernd, während es gegen die Kaimauern krachte, gegen die Schiffe krachte, welche die kriegerischen Liantiner trugen, welche ihre Gaukler-Gefangenenwärter trugen.
Sie wurde das Feuer, welches das herbsttrockene Gras außerhalb der Stadtmauern versengte, die Hitze, die in Wogen aufstieg, während Davins Verteidigungsmaschinen gemäß dem Plan ihres Erschaffers arbeiteten.
Sie wurde all die Götter, all die Tausend. Sie marschierte mit ihnen aus dem Raum der Gefolgschaft. Sie zerschmetterte das Kathedralenglas, ließ Bruchstücke Kobaltblau und Rubinrot und Smaragdgrün und Blei auf den kalten Steinboden herabregnen. Sie fegte durch Morens Straßen, sammelte grün gekleidete Priester ein, die sich als Soldaten verkleidet hatten, Fanatiker, die einen Glauben beschmutzt hatten, der gut und rein war.
Sie wogte auf die Ebene vor Moren, inspirierte gute Männer, ihre Waffen aufzunehmen. Als sie vorüberzog, erholten sich verletzte Soldaten von ihren Wunden, und Männer, die geschwankt hatten, hielten stand. Der Teil von ihr, den sie als Tarn erkannt hatte, versammelte jene, die bereits verloren waren, hüllte die Toten in einen glänzenden, grünschwarzen Umhang.
Hal lief wie ein Wahnsinniger wankend über die Ebene, sein karmesinrotes Banner wehte hinter ihm her. Sie hörte das Plappern kleiner Stimmen in seinem Geist, etwas Zerstreutes, wie die Stimme einer toten Frau, und dann spürte sie, wie ihr Götterselbst die Klänge für immer verbannte. Hal stand aufrechter, nachdem sie vorübergezogen war, schüttelte den Kopf, als klängen seine Ohren, als wäre Stille ein besonderer, heiliger Klang. Er hob seine Seide erneut an und strebte weiter auf die Stadttore zu, aber nun ging er gemessenen Schrittes, wie der König, der zu seinem Volk zurückkehrte.
Und dann waren die Götter fort. Sie wirbelten noch einmal um die Stadt herum, ein Mahlstrom von Bildern und Klängen, von Gerüchen und Geschmäckern und Empfindungen. Rani wurde wieder sie selbst, wieder eine menschliche Frau, die durch die Trennung zitterte und keuchte.
Sie hörte die wuchtigen Glocken, die anzeigten, dass die Himmlischen Tore geöffnet waren, und sie sah die Seelen der toten Soldaten alle zugleich aufsteigen. Dann schlossen sich die Tore mit lautem Klang wieder, und Rani blieb, blind und taub und stumm, zitternd und allein inmitten des geheimen Raumes der Gefolgschaft zurück.
Aber sie war nicht allein.
Sie hörte noch jemanden nahe bei sich atmen und zwang sich, die Augen zu öffnen. Crestman hatte sich erhoben. Er stützte sich auf seine Schwertspitze, als wäre er der älteste Mann auf der Welt.
»Was bist du?«, keuchte er.
»Ich bin Rani Händlerin«, sagte sie.
»Was hast du getan?« Es lag keine Angst in seiner Stimme, kein Entsetzen, wie sie vielleicht erwartet hatte. Stattdessen war da nur Zorn – bitterer, beißender Zorn.
»Ich weiß es nicht.« Das war die Wahrheit. »Berylina hat die Götter
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