Die gläserne Gruft
Dagmar. »Wenn er durch die Krone abgelenkt wird, dann könnten wir Carola...«
»Ja, so ähnlich denke ich auch. Wir müssen nur den richtigen Moment abpassen.«
»Keine Sorge, das kriegen wir gebacken.« Plötzlich war der Optimismus wieder da. Die Augen der Psychonautin funkelten, und sie achtete jetzt auf jede Bewegung des Henkers.
Der tat noch nichts. Die Krone faszinierte ihn. Seine Gestalt straffte sich, dann packte er mit beiden Händen den Griff seines Beils, holte kurz aus und schlug zu.
Mit einem Hieb zertrümmerte er das schützende Glas.
Der Weg zur Totenkrone war frei!
***
Ich verfluchte es, keinen Wagen zu haben, aber ich konnte mir auch keinen malen. Wir mussten den Weg zu Fuß zurücklegen, und wir mussten schnell sein, das stand fest.
Ich war durch meinen Job in Form geblieben. Professor Pflug war es weniger. Außerdem hatte er einige Jahre mehr auf dem Buckel. Eine Weile hielt er mit mir Schritt, dann hatte ich ihn hinter mir gelassen.
Der Kirchturm diente mir als Orientierungspunkt. In seiner Nähe befand sich der Friedhof, und als ich seine Mauer erreichte, war ich selbst überrascht, wie schnell das abgelaufen war.
Etwas außer Atem blieb ich stehen. Beim Luftholen floss die kalte Winterluft in meine Lunge hinein. Sehr bald hockte ich auf der schmalen Mauerkrone und schaute über den Friedhof hinweg. Mein Gefühl sagte mir, dass sich der Pesthenker schon auf diesem Gelände herumtrieb. Auch meine Freunde mussten längst anwesend sein. Ich sah aber keinen und überhaupt keine Bewegung.
Und dann entdeckte ich doch etwas. Ein blasses Licht oder mehr einen blassen Schein in der Ferne. Nicht in einer bestimmten Höhe, sondern vom Boden her fließend, wobei sich das Licht sehr schnell in der Dunkelheit verfing, die plötzlich von zwei Schüssen zerrissen wurde.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte mir nur gemerkt, wo ungefähr die Schüsse gefallen waren. Von mir aus gesehen an der linken Seite des Friedhofs, wo noch weniger zu sehen war, weil dort die Sträucher dichter standen.
»Herr Sinclair...«
Kurz vor dem Sprung nach unten drehte ich den Kopf. Harald Pflug hatte es geschafft. Er war angekommen, aber er hatte sich schon ziemlich verausgabt. Eine große Hilfe würde er mir nicht sein.
»Wer hat da geschossen?«
Ich schaute auf ihn nieder. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Professor. Den Rest erledige ich.«
»Meinen Sie denn, dass Sie...«
Ich hörte nicht mehr, was er sagte. Der Sprung hatte mich bereits auf die andere Seite der Mauer gebracht.
Wieder einmal hielt ich mich auf einem Friedhof auf. Und wieder ging es um Leben und Tod, denn wie gnadenlos der Pesthenker sein konnte, hatte er hinlänglich bewiesen...
***
Ein Schlag mit dem verdammten Beil hatte tatsächlich ausgereicht, um das Schutzglas zu zertrümmern. Jetzt gab es nichts mehr, was den Pesthenker aufhalten konnte, sich die Totenkrone zu holen. Er war praktisch am Ziel seiner Wünsche.
Um Carola Schiller kümmerte er sich nicht. Sie lag auf dem Grab und bedeutete für ihn keine Gefahr. Ebenso wie die beiden anderen nicht, denn hier herrschte nur er.
Er stampfte über das Grab. Trotz der schwerfälligen Bewegungen sah es recht leicht aus, wie er sich bewegte. Er war nicht richtig aus Fleisch und Blut. Mal stofflich, mal feinstofflich. Da hatte sich der Teufel etwas Tolles ausgedacht und seinem Diener eine entsprechende Gabe gegeben.
Noch einmal schlug er zu, um auch die letzten Splitter zu entfernen. Dann lag die Totenkrone frei vor ihm. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um danach zu greifen.
Das tat er – und schnappte zu!
Kaum hatte er dieses so wichtige Teil berührt, da löste sich ein Schrei aus seinem Mund. Es war sein Schrei, kein menschlicher, sondern ein hoher, schriller und grell klingender Laut. Die Menschen in seiner Umgebung hatte er vergessen, und genau das nutzten Harry Stahl und seine Partnerin aus.
Die Ablenkung des Henkers kam ihnen gelegen. Sie hatten sich beide geduckt und bewegten sich kriechend auf das Grab zu. Harry hatte die Frau als Erster erreicht.
Er griff zu und hob Carola an. Dass sie schwer war, merkte er erst jetzt. Sie war auch noch zu benommen. Er entdeckte die dunklen Blutstreifen in ihrem Gesicht und bekam zum Glück Hilfe, denn jetzt griff auch Dagmar ein.
Gemeinsam zogen sie Carola Schiller in eine sitzende Position. Der Kopf der Frau pendelte von einer Seite zur anderen. Sie stöhnte zwar und hielt auch die Augen offen, aber sie bekam ihre Umgebung nicht
Weitere Kostenlose Bücher