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Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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seine Beine längst nicht mehr. Ein unterdrückter Schrei entfuhr ihm, bevor er sich mit Mühe erneut zur Ruhe zwang. Um die lauernde Panik in Schach zu halten, versuchte er, sich sein letztes Gespräch mit dem Franzosen so genau wie möglich ins Gedächtnis zu rufen.
    «Corradino, habt Ihr schon einmal von gehört?»
    Corradino saß im Beichtstuhl der Kirche Santi Maria e Donato auf Murano, seiner Kirchengemeinde. Alle Vetraie gingen hier sonntags zur Messe, obwohl der Staat keinen besonderen Wert auf die Erfüllung religiöser Pflichten legte. Das kam auch in dem Ausspruch «Veneziani primo, poi Christiani» zum Ausdruck - «In erster Linie Venezianer, dann erst Christen». Doch die Glasbläser waren frommer als die meisten Einwohner von Venedig, denn sie dankten Gott für ihre Begabung, die ihnen zu ihrer Sonderstellung verhalf. Mit der Vermessenheit des großen Künstlers dachte Corradino zuweilen, dass Gott und er eine ähnlich geartete Freude empfanden, wenn sie etwas Schönes erschufen. War er dagegen demütiger gestimmt, dann sah er sich als Werkzeug in der Hand des Schöpfers. An manchen Tagen lauschte er aufmerksam den Worten des Priesters, an anderen schweiften seine Gedanken ab, und er widmete seine Aufmerksamkeit vornehmlich dem prachtvollen byzantinischen Mosaik, das den Boden des Kirchenschiffes zierte. Er empfand Ehrfurcht und ein Gefühl der Verbundenheit mit den längst verstorbenen Künstlern, die diese klaren Muster und die naturgetreuen Darstellungen geschaffen hatten.
    Wie üblich war er auch heute zur Beichte gegangen, doch es erwartete ihn nicht sein gewohnter Beichtvater. Als Corradino in der warmen Dunkelheit des Beichtstuhls die Stimme vernahm, wusste er sofort, dass sie Duparcmieur gehörte. Sie hatten sich nie zweimal am selben Ort und nie wieder in Venedig getroffen. Einmal hatte sich der Franzose als Händler von Burano verkleidet, bei dem Corradino Blattgold kaufen wollte. Dann wieder war er der Fährmann gewesen, der Corradino von Venedig nach Giudecca ruderte und dabei im Flüsterton auf ihn einredete. Und nun war er ein katholischer Priester.
    Er sieht immer wieder völlig anders aus, wie die sagenumwobenen Reptilien in Indien, die es fertig bringen, abwechselnd wie ein Blatt oder ein Stein zu wirken. Es kommt mir vor, als lebte ich in einem Traum oder in einer commedia, die in San Marco aufgeführt wird.
    Doch Duparcmieur hatte nichts mit Komödien im Sinn - im Gegenteil, es ging um den Tod. Diesmal wollten sie Corradinos Ableben planen, die ersten Worte des Franzosen schienen dem ernsten Anlass jedoch nicht gerade angemessen.
    «?» Corradino war verwirrt. Doch hatte er die Erfahrung gemacht, dass es das Beste war, dem Franzosen eine direkte Antwort zu geben. Das sparte im Übrigen auch Zeit. Zwar hatte Corradino seit Monsieur Loisy keinen Schulunterricht mehr genossen, aber Giacomo hatte sein Möglichstes getan, um die Bildung des Jungen zu fördern. Daher konnte Corradino die Frage, ob er «Romeo und Julia» kannte, bejahen. «Das ist doch diese alte, vermutlich wahre Geschichte über zwei unglückliche Liebende, die verfeindeten Familien in Verona angehörten. Ein Mönch, Matteo Bandello, hat sie aufgeschrieben.»
    «Sehr gut», ertönte Duparcmieurs leise, ein wenig raue Stimme hinter dem Gitter. «Es mag Euch interessieren, dass ein gewisser William Shakespeare aus England ein Theaterstück daraus gemacht hat. Zwar entstand es bereits zur Zeit der Königin Elizabeth, doch soviel ich weiß, ist es bei Hofe noch immer sehr beliebt. Was für uns, oder vielmehr Euch, wichtig ist, ist der letzte Akt.»
    Corradino lauschte geduldig. Es war nach seiner Erfahrung sinnlos, den Franzosen zu unterbrechen oder mit Fragen zu bestürmen.
    «In dem Stück schluckt Giulietta ein Gift, um einer unerwünschten Heirat zu entgehen. Durch diesen Trank wirkt sie wie tot - das Gesicht hat alle Farbe verloren, der Puls ist kaum mehr spürbar, die Körpersäfte sind erkaltet. Sie spürt keine Schmerzen. In dem Drama erwacht Giulietta nach einigen Tagen, frisch und gesund wie aus einem tiefen Schlaf. Leider hat sich ihr Liebster inzwischen aus Verzweiflung umgebracht, und alles war umsonst. Doch das soll uns jetzt nicht weiter stören.» Corradino fand es erschreckend, wie beiläufig Duparcmieur über das tragische Schicksal des Liebespaares sprach.
    «Worauf es mir ankommt, mein lieber Corradino, ist etwas, worauf sich Eure kleinen Stadtstaaten besonders gut

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