Die Glasfresser
bisschen, blättere langsam um, spüre dabei das Vibrieren des Papiers, lege den Kopf auf das Heftchen, das Ohr auf die Zeichnungen, und schließe für ein paar Minuten die Augen. Während der Aufenthalte auf den Bahnhöfen schalte ich das Licht aus und schaue nach draußen. Auf den Bahnsteigen sind Männer mit Verkaufsständen auf Rädern, auf manchen Bahnhöfen mit Bauchläden wie Zigarettenverkäuferinnen. Sie verkaufen heißen Kaffee aus großen Thermoskannen. Ich sehe, wie sich die Arme der schlaflosen Reisenden hinausstrecken, um den kleinen Plastikbecher zu nehmen, dann noch einmal, um zu zahlen, während der Zug schon wieder losfährt und ihnen heiße schwarze Tropfen auf die Finger spritzen.
Sobald der Zug einen Bahnhof verlässt, mache ich das Licht wieder an und schirme es ab. Ich gehe mit dem Mund an die Knöchel heran und habe das Gefühl, das Licht zu trinken. Ich denke an Kaffee. Nervöse Zittrigkeit. Flüssiger Rauch. Ich weiß, wie er aussieht, weiß, wie er riecht, doch ich habe noch nie welchen getrunken. Jeden Nachmittag daheim, wenn der Stein welchen kocht, schaue ich zu und höre das Gurgeln, das er macht, wenn er hochsteigt; ich stehe konzentriert vor der Espressokanne, verwirrt von diesem Grollen.
Als ich den Kopf erneut von meinem Heftchen hebe, sind Stunden vergangen. Ich lösche das Licht, ziehe mich hoch, lehne die Schultern gegen die Koffer und sehe die Landschaft draußen maßlos wachsen. Hinten in diesem ersten Licht, das bei der Bewegung des Zugs rein und intakt bleibt, noch nicht benutzt von den Körpern, die bald hindurchgehen und es in eine Unzahl von Fragmenten zerschneiden werden, ist das kreolische Mädchen. In den Tagen, nachdem ich ihr das Geschenk überreicht hatte, habe ich beschlossen, dass es unsere Hochzeit war. Der Tausch des Stacheldrahts anstelle von Ringen: Sie hat das Stückchen Draht genommen und mir die Bewegung ihres Arms und ihrer Finger gegeben. Ihre Schönheit. Doch nachher in der Schule nur stumme Verständigung mit Blicken, ein Zittern der Pupille, bei ihr und bei mir. Sonst nichts.
Um neun Uhr morgens sind wir bei der Demobilisierung. Die Betten sind zugeklappt, die Laken und Decken unter den Sitzen. In den Augen ist Schlaf, im Atem das Dunkel der Nacht. Die Haut ist betäubt, auf den Gesichtern sind zusätzliche Linien, eingedrückt vom Muster des Kissens. Wir sehen uns argwöhnisch an.
Der Zug hat Verspätung. Der Stein kauft auf dem Bahnhof von Aversa Kaffee durchs Fenster. Die Schnur holt aus der Reisetasche meine Feldflasche hervor: Das Wasser kommt fügsam heraus, jeder Schluck im müden Mund streichelt sanft den Gaumen. In der Zwischenzeit liest der Lappen Micky Maus , doch sein Kopf fällt zur Seite und nach vorn, als wäre er kaputt. Aus der geschlossenen Hand schaut das dunkle Gelb eines Stückchens Brot hervor. Der Lappen ist vier Jahre jünger als ich und ein Gemäßigter. Er ist solide, ohne Aggression, schweigsam ohne Feindseligkeit. Tagsüber isst er nur Brot, am Abend Obst. Wie ein Kanarienvogel, wie ein Hamster. Fleisch fast nie, und wenn er welches isst, entfernt er die Sehnen und das Fett und alles irgendwie Fragwürdige mit Messer und Zähnen. Einmal, vor ein paar Monaten, hat er sich den Stiel eines Plastiktennisschlägers in den Mund gesteckt, einen von denen, mit denen man spielt, wenn man einen Schaumgummiball benutzt. Die Äderchen um den Mund herum sind aufgerissen, doch er hat es nicht gemerkt, weil es ihm nicht wehtat. Die Schnur sah ihn, wie er guter Dinge mit diesem nicht blutenden Blutkranz um den Mund in die Küche kam, sich Brot nahm und wieder hinausging, und sie wusste nicht, was sie denken sollte, die Schnur, ob sie lachen oder schreien sollte. Ich dagegen habe ihn in einen Sessel gesetzt, habe den Fotoapparat genommen und ein Foto von ihm gemacht. Man sieht den Lappen, dessen Füße den Boden nicht berühren, den rötlichen Mund halb geöffnet, einen weißen Kalkfleck auf einem oberen Schneidezahn. In einer im Schoß ruhenden Hand das ewige angebissene Brot.
In Latina steigen ein Mann und eine Frau ein und kommen in unser Abteil. Wir machen Platz, sie setzen sich nebeneinander: sie ans Fenster, er in die Mitte; dann folge ich, auf dem Platz an der Tür; die Schur, der Stein und der Lappen sitzen gegenüber.
Sie sind jung, tragen beide abgewetzte Jeans und Jeansjacken. Schwarze Locken Koteletten Schnurrbart er, blonde Locken und ein rot-violettes Halstuch sie. Beider Gesichtsausdruck ist angespannt, Mienen, die das
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