Die Glasfresser
Böse wittern. Sie sprechen nicht, sie starrt vor sich hin - auf die Schnur, ins Leere; er hat, als er sich die Jacke auszog, ein Heftchen aus der Tasche genommen und liest jetzt, jedoch gelangweilt, schaut hin und wieder nach draußen und verachtet es, das Draußen, wie sich der Tag endgültig herausbildet, so gewaltig und so nutzlos.
Wir sind ähnlich, der Mann und ich. Auch die Frau und ich sind ähnlich. Gleicher Stamm, gleiches Temperament. Glasfresser. Wir sind finster, gefährlich, die Augen wie Schlitze, die in die Ferne schauen und die kleinsten Flecken entdecken. Wenn in diesem Moment jemand ins Abteil käme, würde er denken, sie seien meine Eltern. Ich ihr Sohn. Und diese drei uns gegenüber - keine Ahnung, die waren schon vorher da.
In Roma Ostiense steht meine neue Familie auf, sagt kein Wort und geht hinaus. Der Mann nimmt seine Jacke vom Sitz, lässt aber das Heftchen liegen. Ich stehe auf, nehme es, setze mich wieder hin. Was in mir vorgeht, ist völlig normal: Ich will ein bisschen stöbern, mir die Zeit verkürzen, bis wir nach Rom gelangen. Doch ich spüre Bedauern darüber, dass meine improvisierte wilde Familie mich verlassen hat. Ich empfange also das Heftchen wie ein Erbe: Ich öffne es und versinke darin.
Am Anfang nur Gesichter, undurchschaubare Zusammenhänge. Dann hören die Sekunden auf zu fließen und verdichten sich wie Öltröpfchen auf der Wasseroberfläche. Koaleszens nennt man das.
Das Heftchen erweist sich als ein wunderbar schmieriges minderwertiges Exemplar des zeitgenössischen Pornocomics: jeweils zwei Bilder, vier insgesamt auf der Doppelseite, wie bei Diabolik oder Kriminal . Wenn ich mit Scarmiglia und Bocca unsere Pornonester in der Stadt aufsuche, finde ich neben Fotomagazinen immer auch solche Comics. Es gibt Jacula , Cosmine , Lucifera , Jolanka . Weniger schön als die mit echten Körpern, doch offener
in der Fantasie, subversiver, denn gezeichnete Körper können alles tun.
Ich setze mich auf den Mittelsitz. Niemand an den Seiten. Die Schnur und der Stein und der Lappen ganz weit weg mir gegenüber. Draußen die Landschaft, die fasrig aufreißt. Ich mache wieder mein finster-gequältes Gesicht, halte die Ellbogen eng am Körper, der junge Herr bei der Lektüre, meine erzkatholischen guten Manieren - die Hostie in Heroin verwandelt, das Heroin in die Hostie, das Gebet in Porno, der Porno in Gebet. Ich lese und gerate in Verwirrung.
Da ist im Zentrum der Zeichnung ein nackter Mann mit schnurrbärtigem Gesicht, halb ausgestreckt auf einem niedrigen Stuhl neben einem Doppelbett, seinen Penis in den Händen - in beiden, in Anbetracht der Dimensionen -, der die Umarmung eines anderen, jüngeren, blonden Mannes mit einer Werwolffrau betrachtet, die auf dieser und weiteren Seiten wiederholt als Nymphomanenkönigin Sexgöttin unerschöpflicher Orgasmusbrunnen unversiegbarer erotischer Quell irrsinnig dehnbare Vaginalhöhle verkommenes Wahnsinnsmundloch magnetische Arschfotze Hure Nutte Bläserin und versaute Schlampe bezeichnet wird, mächtig und verstörend in der Zeichnung der Beine und der Brüste, in dem gierigen Schwung der Augen, halb auf dem Bauch und halb auf dem Rücken liegend und gekrümmt und gebogen und gebeugt und verdreht, penetriert in den Nabel in die Seite in den Rücken in die Rippen und in den Nacken, in den ganzen Körper, den ich mit den Fingern berühre, wobei ich, aus Respekt und Scheu, die diversen phallischen Explosionen sowie, wenn abgebildet, die schmierigen Eruptionen von Samen zu meiden versuche und eher mit den Fingerspitzen den strahlend weißen Körper der Frau betaste, das opalartige Schimmern, jenes Hervorbrechen hellen Lichts, das sich von kompakt zu transparent wandelt, wenn ich beim Umblättern die Seite hebe und schon die Zeichnung auf der Rückseite durchschimmern sehe, unter anderem verkompliziert durch die nicht dazugehörigen Linien, die von der Vorder- auf die Rückseite durchgedrungen sind, auf das Papier gedrückt durch
die Halbmonde meiner Nägel, Einschnitte von Kommas, um das Bild des Eros zu segmentieren, die Syntax der Umarmung in ihre unendlich kleinen Teile zu zerlegen.
Der Zug ruckelt, und, verloren zwischen den Seiten der Pornowelt, taucht das kreolische Mädchen auf. Sie sieht sich um. Die riesigen Penisse, die Vaginalhöhlen. Sie weiß nicht, wohin sich wenden. Sie streift winzig klein zwischen den gezeichneten Aktionen umher, mustert sie besorgt, ihrerseits aus dünnen Linien bestehend, auf dem Papier kaum zu
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