Die Glasfresser
kommt.
Wir begegnen uns, sagen nichts zueinander. Wenn sie an mir vorbeigeht, suche ich auf der abgenutzten Oberfläche ihrer
Schultasche ein Signal, ihren Namen, mit Filzstift geschrieben, wie es üblich ist, aber es ist keiner da, sie hat keinen Namen. Ich könnte jemanden aus ihrer Klasse fragen, könnte zuhören, bis ihr Name fällt, bis er in mich eindringt und keimt, doch ich tue es nicht. Ich will, dass sie für mich eine Erscheinung bleibt. Ein Wesen. Ohne dass irgendetwas sie beschmutzt, ohne die Schändung durch eine Geschichte. Ihr Name ist ›kreolisches Mädchen‹, nur kreolisches Mädchen, sonst nichts, und wenn ich sie über den Innenhof gehen sehe, durch die Gänge, wenn ich sie ankommen, weggehen sehe, dann spüre ich, wie die Worte durch Zeit und Raum wandern und in ihren Körper eindringen. Ich fühle die Worte Du bist schön, du bist wunderschön auf einer gekrümmten Bahn sanft ihr Fleisch durchbohren und im Dunkel verschwinden, und ich weiß, dass ich diese Worte nie mehr zu jemandem werde sagen können, Du bist schön, du bist wunderschön, nie mehr, weil das kreolische Mädchen, ihr Körper, sie absorbiert hat, es sind ihre; sie zu einer anderen Person zu sagen wäre eine Lüge.
Eines Tages, in der Naturkundestunde, spricht die Lehrerin über Schnecken. Gastropoden. Die kleinen weichen blasenartigen Dinger, die nach dem Regen aus der Erde kommen und an den Blättern nagen. Sie sind im sumpfigen Boden oder hängen bäuchlings an Mäuerchen, unter Gittern. Fast alle mit Gehäuse, einige ohne, Finger aus festem, grauem Wasser. Normalerweise zerquetsche ich sie, ohne sie zu töten, um diesem Matsch aus weichem Körper und Gebröckel beim Todeskampf zuzusehen.
Auf meinem Nachhauseweg von der Schule bleibe ich an den Mäuerchen stehen und nehme die Schnecken ab, immer eine, löse sie sanft von der Oberfläche. Ich wühle mit den Fingern in Beeten und unter den Sträuchern des Viale delle Alpi, in den nassen Blättern, und auch dort finde ich Schnecken. Ich sammle Dutzende. Ich setze sie in ein paar Pappschachteln mit ein bisschen Gras, Blättern und Salat; der Schnur sage ich, dass es für den Naturkundeunterricht sei. Am Nachmittag nehme ich Filzstifte und die
Schachteln und hole eine Schnecke nach der anderen heraus. Die Körper ziehen sich scheu zurück, in meiner Hand bleibt ein leichter, modellierter Stein. Ich male die Schneckenhäuser an. Blau, rot, grün, schwarz. Auf manchen verblasst die Farbe nach ein paar Stunden, auf anderen hält sie und leuchtet. Ich beobachte, wie die Schnecken sich im Karton vermischen, Fahnen bilden, sich voneinander lösen, wieder zusammenklumpen. Am nächsten Tag stecke ich die Schnecken in die Jackentasche und gehe zur Schule. Im Gehen taste ich mit den Fingern nach ihnen, die Tasche ist nass und klebrig. Ich bleibe stehen, wo jeden Morgen das Auto mit dem kreolischen Mädchen anhält, hole die Schnecken aus der Tasche und lege sie in Reih und Glied auf den Bürgersteig. Dann entferne ich mich und warte. Während ich warte, vergehen Minuten, und zwei Schnecken fallen vom Bordstein, setzen ihren Weg fort und lassen sich von Reifen zerquetschen. Es gelingt mir, aus dem brutal donnernden Verkehr herauszuhören, wie es zweimal knirscht. Ich spüre es innen, hinter dem Brustbein, das kurze, harte Geräusch von Worten der Liebe, die zerbrechen. Zwei weitere Schnecken werden von Passanten zertreten. Ein Zurückweichen, man ekelt sich, will sich entziehen, reibt die Sohle ab, um sich von der Infektion zu befreien. Wieder andere Schnecken - eine dunkelblau, die andere orange - werden von Leuten, die ich nicht kenne, bemerkt und mitgenommen. Zuerst will ich auf sie losgehen, sie zwingen, alles wieder in Ordnung zu bringen, doch stattdessen sehe ich hinter ihnen her, wie sie erstaunt die Gehäuse mustern, sie gegen das Licht halten und wie Edelsteine untersuchen. Als das Auto kommt und das kreolische Mädchen sich verabschiedet und aussteigt, ist die Farbenbotschaft, deren Sinn ich selbst nicht kenne, ganz und gar verloren. Da ist nur ein kleines rotes Schneckenhaus, das gemächlich und einsam ein Mäuerchen hochklettert, Blut auf der Flucht, doch sie sieht es nicht und geht unbeirrt weiter.
Auf dem Rückweg nach Hause sammle ich weitere Schnecken, immer mit den Fingern in der Erde. Zum Glück regnet es im April viel, das Wetter tobt sich aus, bevor die Hitze beginnt, und die Beete sind voller Schnecken. Ich nehme sie wieder mit nach
Hause, gebe ihnen wieder zu
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