Die Glasfresser
herauszuschreien. Ein Masochist. Ich bringe nur kindliche, anachronistische Ausdrücke hervor. Der gefühlsmäßige Impuls ist zunächst authentisch, doch in dem Moment, da er zum Wort wird, verwandelt er sich, und es kommt »Verflixt!« heraus, so wie man in Comics »Donnerwetter!, Potztausend!, Meine Güte!« sagt. Ein paarmal habe ich, mit Tränen der Scham in den Augen, »Verflixt und zugenäht!« gerufen. Und auch »Scheibenkleister!« zu sagen, mich daran festzuklammern, wie ein Schiffbrüchiger ans Wrack, ist beschämend. Besonders wenn mein Gegner »Scheiße!« sagt, wenn er »Scheiße!« sagen kann, und da jeder - außer mir - es sagen kann, treibe ich, während es schwarzen Kot vom Himmel regnet, weiter in den Wellen, klebe an einer gekleisterten Scheibe, die Stück für Stück zerspringt.
Unterdessen erreicht uns vom Corso Emanuele die Stimme eines Straßenhändlers, einer von denen, die in einem Lieferwagen mit offener Ladefläche herumfahren. Langsam, im Schritttempo. Er verkauft Salz. Der Lockruf für sein Angebot kommt in Form eines perfekten, hypnotischen Elfsilbers daher, eine kommerzielle und
religiöse Anrufung. Kauft hier vier Päckchen Salz für tausend Lire . Ich höre ihm andächtig zu. Die Lira ist eine neorealistische Währung des Volkes. Katholisch. Bürgerlich. Ein Schwarz-Weiß-Geld.
Mit einem Mal steht Scarmiglia auf, ohne etwas zu sagen, und entfernt sich Richtung Corso Vittorio Emanuele. Er kommt drei Minuten später zurück, in den Händen ein weißes Päckchen.
»Warum hast du Salz gekauft?«, fragt ihn Bocca.
»Ich habe es nicht gekauft, ich habe es gestohlen.«
»Gestohlen?«
»Ich habe mich an den Lieferwagen gestellt, den Arm ausgestreckt und es gestohlen.«
»Wofür brauchst du denn das Salz?«
»Für nichts.«
»Und warum dann?«
»Nur so.«
»Wie, nur so?«
»Nur so.«
Scarmiglia denkt darüber nach.
»Ich hatte Lust, schuldig zu sein«, sagt er.
Das ist ein Wort, das mir gefällt. Schuldig . Auch wenn ich nie den Mut habe, es zu sein. Ich beneide Scarmiglia um die Fähigkeit, schuldig zu sein. Denn darum handelt es sich, um eine Fähigkeit: Nicht alle können schuldig sein; es ist eine Bestimmung, und es ist eine Aufgabe.
»Was meinst du damit?«, fragt Bocca.
»Dass es mir gefiel, eine Sache zu tun, die für die andern falsch ist, aber für mich in dem Augenblick richtig war. Oder nein, nicht richtig: Ich hatte einfach das Bedürfnis, es zu tun.«
»Und warum ausgerechnet Salz stehlen?«, frage ich.
»Weil ich Straßenhändler furchtbar finde.«
Scarmiglia ist der Mensch, dem es gelingt, dass ich mich einsamer fühle; er ist auch der einzige Mensch, dem es gelingt, dass ich eine Zugehörigkeit fühle.
»Hast du keine Angst gehabt, geschnappt zu werden?«, fragt Bocca.
»Nein.«
Bocca sieht ihn an. Er glaubt ihm, er kann ihm unmöglich nicht glauben, er muss ihm glauben, weiß aber nicht wie.
»Nein«, wiederholt Scarmiglia. »Warum hätte ich Angst haben sollen?«
»Aber die Leute hier …«, sagt Bocca. »Du siehst doch, wie die sind?« Vorsichtig, um nicht aufzufallen, deutet er mit dem Kopf nach links und rechts.
Es ist, als wären wir in einem zum Himmel offenen Haus mit Gassen statt Fluren. Hier sind alle verwandt, alle vereint. Die Gesichter ähnlich, die Stimme gleich. Die Kinder sprechen mit der Stimme der Alten. Kein Unterschied zwischen Steinen und Haut; die Haut überzieht den Stein: Wird ein Stein gespalten, ist darin das Fleisch.
»Das sehe ich«, sagt Scarmiglia. »Meinst du, sie können mir etwas tun?«
Bocca ist still, wendet sich erneut in Richtung der Leute. Sie stehen in ihren Türen, sehen uns an. Von dort, wo wir sitzen, kann ich in das Innere eines Hauses spähen, die Fensterläden im Erdgeschoss sind offen. Es gibt einen Strohstuhl, ein kleines Transistorradio. Einen runden, dunklen Tisch, doch davon sehe ich nur ein Stück. Nackte Glühbirnen, die ein mattes Licht geben. Zwiebel und Knoblauch auf der Ablage. Ein in der Mitte aufgebrochener Laib Brot. Die städtische Ländlichkeit. Die Postkarte aus dem Intervallo .
Scarmiglia entfernt sich und geht zu einer alten Frau und einem Mann, fängt an mit ihnen zu reden. Von unserem Platz aus können wir nichts hören, doch Scarmiglia spricht viel, sehr viel, ohne je eine Pause zu machen, ohne das Wort abzugeben. Dann hört er auf, wartet. Die Frau sieht den Mann an, der Mann sagt ein paar Worte, antwortet einsilbig, dann ist er still. Scarmiglia verabschiedet sich mit einer
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