Die Glasfresser
fressen und hüte sie. Dann, nach den Hausaufgaben, greife ich zu den Filzstiften und hole sie aus den Schachteln. Auf jedes Schneckenhaus schreibe ich einen Buchstaben des Alphabets, die Buchstaben bilden die Wörter, die Wörter den Satz. Elementar. Tragisch. Wer bist du? Nur das. Ein einziger Buchstabe mitten auf der Schnecke, auf dem Apex. Plus Fragezeichen, für sich. Es ist eine Frage, aber nicht ich stelle sie: Es ist die Welt, die durch mich das Wesen befragt.
Dann beobachte ich, wie die alphabetischen Schnecken sich in der Schachtel mischen und die Frage sprengen. RIW? UEBSTD. SDIERBT? WU.? WEUDRIBST. Am nächsten Morgen nehme ich meine Frage mit zur Schule. Ich warte bis zuletzt, bis ich das Auto kommen sehe. Dann lege ich, vor den Augen der Schulkameraden, die Schnecken auf den Boden, versuche es so einzurichten, dass jede in einem der kleinen Quadrate bleibt, die die Platten des Bürgersteigs bilden. Danach entferne ich mich, mische mich unter die anderen und sehe, wie das kreolische Mädchen sich verabschiedet, aussteigt, sich umwendet, mitten durch die Schnecken geht, ohne sie zu sehen, die Schule betritt. Betrübt suche ich meinen Satz auf, bücke mich und bemerke, dass ich bei der Anordnung der Schneckenhäuser eine Antwort konstruiert habe: DU BIST WER. Das Fragezeichen hat sich davongemacht: Ich sehe, wie es sich leichtsinnig Richtung Fahrbahn entfernt.
Tagelang mache ich so weiter, grabe Schnecken aus der Erde, säubere sie, schreibe darauf, bilde Sätze. Ich versuche die Formulierung zu variieren, doch die Substanz bleibt gleich. Und gleich bleibt auch das Sortilegium, bei dem am Morgen alles zerstört wird. Ein Teil der Buchstaben wird überfahren und stirbt mit schmerzhaftem Knirschen, ein anderer Teil wird von Fremden aufgesammelt und fortgetragen, wieder ein anderer Teil macht sich mit unbekanntem Ziel davon. Was bleibt, wird ignoriert.
Dann, nach zehn Versuchstagen, steigt das kreolische Mädchen aus dem Auto, wendet sich um, verlangsamt ihren Gang und bleibt stehen. Schaut. Überlegt. Die weißlichen, von den
Schnecken hinterlassenen Spuren sind von unterschiedlicher Beschaffenheit, durchscheinende Streifen, kreuz und quer. Die in vertrocknetem Fleisch zersplitterten Gehäuse markieren den Raum. Ein tagelang unsichtbares Gemetzel, die Verzweiflung der Worte.
Sie geht einen Schritt zur Seite, bückt sich und beobachtet ein WER, nur ein überlebendes WER, das im Begriff ist, sich langsam zu trennen, resigniert in sein Schicksal zu ergeben. Das nicht fragt, nicht antwortet: Es ist . Das kreolische Mädchen nimmt die drei Gehäuse mit den Fingern, legt sie sich in die Handfläche. Zusammengekauert schaut sie sich um. Es ist, als würde sie zu sich sagen: Einen Urheber muss es geben. Irgendetwas, das erklärt, das einen Sinn ergibt. Da gehe ich in Deckung, tauche in der Menge unter und spüre unter der Haut meiner Stirn die Rührung über die Wörter, die auch nahe dem Untergang widerstehen und etwas sagen. Ich empfinde Dankbarkeit. Dann sehe ich, wie das kreolische Mädchen wieder aufsteht, die Schnecken noch auf der Handfläche, und den Kopf reckt, auf ihre Art versucht, einen Zusammenhang herzustellen. Sie ist so schön, so heiter, und ich spüre, wie sich Rudel, Scharen, Schwärme von Wörtern aus der Welt auf sie zubewegen, ganze Vokabulare in ihrem Körper verschwinden, die gesamte vorstellbare Sprache zu mikroskopischer Materie wird und in ihrem Körper Platz findet.
Während sie noch mit den Augen sucht und nicht fündig wird und ihre Schönheit sich wie Blütenstaub in der Luft verbreitet, gehe ich die Stufen hinunter, die zum Innenhof führen. Ich gehe langsam, in Gedanken, und mit jedem Meter gehe ich gebückter, wie eine geschwungene Klinge, wie der Zweig eines Brombeerstrauchs.
Am Nachmittag des 18. April verlasse ich nach dem Mittagessen und den Schulaufgaben das Haus. Der Himmel ist wie ein graues Gewölbe: Man wird schläfrig, bekommt Lust umzukehren. Ich wende mich nach rechts, dann nach links, erreiche die Via Libertà. Scarmiglia und Bocca sind schon an der Kreuzung und warten
auf mich. Still, die Kehlen voller Asche, machen wir uns auf den Weg zum Monster.
Das Zentrum von Palermo ist die Gehenna des Feuers. Wo man nicht hingehen darf. Und man geht auch nie hin, es gibt keinen Grund. Ich bin ein paarmal mit dem Stein im Auto durchgefahren, habe wenig gesehen. Bröckelnde, rissige Mauern. Eine nicht zu entziffernde Gegend. Der Mittelpunkt der Erde. Für Bocca ist es
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