Die Glasfresser
das Gleiche. Scarmiglia dagegen ist einige Male mit seinen Brüdern da gewesen. Wenn er uns davon erzählt, habe ich das Gefühl, dem Bericht eines Höhlenforschers zuzuhören.
An den Quattro Canti angekommen, biegen wir nach links ab, dann nach der Via Roma erneut. Wir gehen über den Markt, zu den Metzgern, durch die Gassen, zwischen die Gedärme. Die Stände sind leer, die Rollgitter geschlossen. Demobilisierung. Die Luft ist ungeheuer feucht, riecht nach Fäulnis. Verlassen in einer Ecke ein Stück Leber von einem Tier, violett und rot. Es ist groß, hat die Form einer fliegenden Untertasse. Die nach außen gewölbte Oberfläche ist übersät mit leichten Verwerfungen und Rissen; da sind auch kleine gallertartige Wirbel, das Netz der Adern scheint durch. Neben der Leber liegt ein durchlöcherter Müllsack. Ein schwarzes Tier. Aus den Löchern ragen blendend weiße Knochen, wie Pfoten. Ein langer, entfleischter Knochen steht nach oben, eine Versteifung, die sich am Tuff eines Hauses hochschiebt. Aus einem anderen Loch, unten, drängen die inneren Organe wie Kot nach außen.
Vom Markt kommen wir auf die Piazza San Domenico. Mitten auf der Via Roma liegt ein toter Hund. Bocca und ich bleiben am Straßenrand, Scarmiglia geht näher ran. Autos fahren vorbei, doch er kümmert sich nicht darum. Eine Minute lang untersucht er den Hund, wendet sich dann zu uns um, gibt uns ein Zeichen, wir gehen zu ihm.
»Er lebt«, sagt er.
»Er sieht tot aus«, sagt Bocca.
»Nein, er bewegt die Augen, macht Geräusche«, sagt Scarmiglia.
»Er ist im Todeskampf«, sage ich. Ich denke an die Krüppelkatze,
an Christus am Kreuz. Wenn niemand da wäre, würde ich mich über ihn beugen, seinen Bauch mit dem Stacheldraht berühren, ihn durchstoßen.
»Nehmen wir ihn mit?«, fragt Bocca.
Ich betrachte den Körper, die zerquetschten und verdrehten Hinterläufe, den dreieckigen Kopf mit dem zerfetzten Fell und dem weißen Hirn, das herausquillt.
»Ich meine, bringen wir ihn woanders hin?«, ergänzt Bocca.
»Warum?«, fragt Scarmiglia. »Er stirbt doch sowieso.«
»Ja, aber nicht hier.«
»Es ist egal, wo er stirbt«, sagt Scarmiglia und entfernt sich.
Bocca und ich bleiben noch für ein paar Sekunden und betrachten das Tier zwischen den vorbeifahrenden Autos, gehen dann zu Scarmiglia. Zurück am Eingang vom Markt, dreht Bocca sich um und hält uns an. Mitten auf der Fahrbahn, bei dem Hund, sind zwei kleine Jungen. Sie sind von hier, ich höre sie nicht, aber ich bin sicher, sie sprechen Dialekt. Einer beugt sich über den Hund, bindet ein Seil um eine Pfote, zieht ihn bis zum Bürgersteig. Der andere nimmt Streichhölzer, zündet sie an, wirft sie auf den Hund. Nichts geschieht, die Leute gehen weiter vorbei. Dann bleibt die Flamme eines Streichholzes an, erfasst das Fell, breitet sich aus. Vom Bauch des Hunds steigt grauer Rauch auf, nach ein paar Sekunden sieht man auch das Feuer.
Gehen wir, sagt Scarmiglia.
Wir sind wieder auf dem halb leeren Markt. Ich höre ein leises Gluckern, sehe Rinnsale in den Fugen der großen Steinplatten, die aus Marmor sind. Grabsteine, die Pflasterung des Zentrums. Ich gehe über Gräber, betrachte das Wasser, das über die Mauern der Häuser läuft. Es nagt und beißt, es hat Zähne. Wenn man mit den Fingern kratzt, löst das Haus sich auf.
Die Palermer sind wie festgewachsen in ihren Gassen, im Zentrum der Elendsquartiere. Sie sprechen kehlig, aus dem Magen, ein ständiges Abkratzen von Wörtern in der Kehle und im Bauch. Sie sind Schreihälse. Das Palermische ist eine Schreisprache. Geschieht irgendetwas, irgendein Ereignis, gleichgültig was,
beginnt der Palermer sofort mit seinem aufdringlichen Geschrei. Oft ist es ein einziger Satz, der mit modifizierter Intonation in einer dynamischen Litanei wiederholt wird, noch einmal ausgerufen, noch einmal verstärkt, sodass sich das Ereignis auf seine ursprünglichste und die authentische Natur des Skandals reduziert. Doch immer drohend, wütend. Denn dem Dialekt-Palermer ist alles ein Gräuel.
Wir setzen uns auf die Stufen der Kirche San Francesco, unter die durchbrochene Rosette. Der Himmel ist tiefschwarz, man spürt, dass es bald regnen wird.
»Verflixt!«, sage ich und weiß weiter nichts zu sagen.
»Was?«, fragt Bocca.
»Gleich wird es regnen«, antworte ich.
Sie schauen mich verblüfft an.
»Verflixt!«, sage ich noch einmal.
Sie sagen nichts.
»Verflixt«, wiederhole ich leise, beschämt, weil ich weiß, dass ich unfähig bin, etwas
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