Die Glasfresser
meinem Rucksack hole ich das Stück Stacheldraht heraus, hocke mich hin und ritze mit den Spitzen kleine Figuren in den Holzboden. Meine privaten Hieroglyphen. Sterne mit Tausend Zacken, winzig kleine Spiralen mit einem in der Mitte eingeschnittenen Buchstaben, die gekritzelten Flugbahnen der Bienen, Stellungsvarianten beim Alphastumm. Mit schmerzenden Fingern stehe ich wieder auf und betrachte mein Werk, zufrieden und angeekelt, hin- und hergerissen. Ich bleibe dort Dutzende von Minuten, allein, still, den Stacheldraht im Schoß, den Sommer draußen ausgesperrt; dann nehme ich den kleinen Spiegel, der an einem Nagel hängt, klemme ihn zwischen die umgekippten Sonnenschirme und schaue mich an. Ich reibe die Kuppen von Zeigefinger und Daumen aneinander, um
zu klären, wer spricht; strecke die Arme aus und beuge mich vor; berühre mit den Händen zuerst die Knie, dann die Hüften die Brust die Stirn; schließlich lege ich gemessen eine Hand auf die andere.
Ich. Verstehen. Verlangen. Das Gute.
Ich verstehe, dass Verlangen etwas Gutes ist.
Ich mache weiter: Reiben der Finger, Drehen um die eigene Achse, als würde ich fallen, die Hand, die an der Wand hinuntergleitet.
Ich. Scham. Angst.
Ich schäme mich, Angst zu haben.
Ich schäme mich, Angst zu haben, das stimmt, und doch muss ich sagen können, dass ich Angst habe. Denn die Angst ist ein Instrument. Sie dient dazu, dass man erfährt, versteht. Angst muss es geben. Nur dass sie bei mir immer da ist.
Ich verlasse die Kabine. Der Lappen macht irgendwas mit dem nassen Sand; die Schnur, etwas weiter weg, liest unter dem Sonnenschirm. Ich gehe zu ihr, stelle mich vor sie hin, fixiere sie, reibe die Finger aneinander, mache einen Tritt nach hinten, schlage mit dem Kopf hin und her; dann noch einmal: Fingerreiben, Tritt nach hinten, Schlagen mit dem Kopf. Die Schnur klappt das Buch zu. Sie ist eher peinlich berührt als besorgt, weiß nicht, was sie zu den Leuten ringsum sagen soll. Und ich höre nicht auf: die Finger reiben, nach hinten treten, mit dem Kopf schlagen. Immer schneller, immer schneller, die drei Bewegungen überlagern sich irgendwann, ich reibe die Finger, während ich den Tritt nach hinten mache und mit dem Kopf schlage. Die Schnur steht auf, kommt auf mich zu, ich weiß nicht, ob wütend oder um mich zu stoppen, doch ich will weitermachen, und als ich den Tritt nach hinten vollführe, tue ich es so fest, dass ich einen Schmerz im Bein spüre, die Fingerkuppen tun mir weh, mein Kopf scheint sich vom Hals zu lösen, ich verliere das Gleichgewicht und falle bäuchlings vor der Schnur in den Sand. Mit meinem schmutzigen Gesicht drehe ich den Kopf und starre sie von unten an.
»Ich Hass du, ich Hass du, ich Hass du«, sage ich mit meiner ganzen Wut. Dann stehe ich wieder auf, gehe weg und säubere meinen Mund vom Sand.
Nach der Rückkehr vom Meer schlafe ich wegen der angestauten Hitze ein. Ich schlafe zwei, vielleicht auch drei Stunden, wache am späten Nachmittag auf; im Kopf die Erinnerung an einen Traum, fast wie ein Geschmack, aber dennoch nur ein Bild. Vor dem Abendessen nehme ich den Plattenspieler und höre mir Schlager an. Ich stelle den Kasten auf den Boden, klappe die Abdeckhaube hoch, stecke den Stecker in die Steckdose, wähle die Geschwindigkeit, lege die Platte auf den Plattenteller, schiebe den Tonarm vor, setze die Nadel auf, höre das Rauschen, das Knistern - und habe die übliche Angst vor dem Kratzer, vor dem Zeigefinger, der den Tonarm schlecht aufsetzt, ihn von zu weit oben fallen lässt oder ihn durch die Rillen zieht und den Ton zerstört.
Laura Luca singt Domani, domani . Die ich-weiß-nicht-wievielte Bekehrung, die Hostie, die zur Stimme wird. Ich höre auch die kosmetische Stimme von Dora Moroni. Und doch, sowohl Laura Luca als auch Dora Moroni dufteten sehr gut, als ich sie im Fernsehen gesehen habe, ein Duft voller Schärfe und Feuer, lang anhaltend und sinnlich, bei dem ich die Augen halb geschlossen hatte. Bei den Nahaufnahmen hatte ich die Form ihrer Brigadistinnengesichter studiert - das Haar von Laura Luca offen und lässig, wie man es heute trägt, die schwarzen Augen von Dora Moroni voller Ideologie. Der einzige Unterschied, verglichen mit einer echten Brigadistin, war das Rouge: exzessiv und aufdringlich und ziegelrot sprang es einen von den Wangen an. Die echte Brigadistin ist ideologisch und entschlossen. Sie hat absichtlich strähnige Haare, aber auf den Wangen hat sie das Weiß des Kampfes. Keine Schminke, keinen
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