Die Glasfresser
einen Augenblick ist das kreolische Mädchen das Licht meines Nimbus, ein intensiveres Licht, ein helles Gelb getüpfelter Teilchen. Auch das Wort ›Antillen‹ dringt in meinen Kopf ein und lässt ein Bild der Zersplitterung entstehen. Eine Zerstreuung. Ich weiß, dass es sehr kleine Inseln sind, auf der Landkarte sehen sie aus wie ein Hautausschlag. Das kreolische Mädchen - Wimbow - entstammt einer Krankheit, einer Ausbreitung. Dem ozeanischen Gewimmel der Inseln. Den ›Wind-Regenbogen‹ kenne ich nicht. Ich kenne die beiden einzelnen Wörter. Das eine, ›Wind‹, gefällt mir; das andere, ›Regenbogen‹, weniger. Es kommt mir überheblich vor, missbräuchlich benutzt. Es lässt mich an Kinderzeichungen denken, die bunten gebogenen Streifen, die ineinander übergehen. Wind-Regenbogen ist der Wind des Regenbogens oder der Regenbogen des Windes. Am Ende des Regenbogens ist der Topf mit den Goldmünzen. Im
Wind leben die Bienen. Die Bienen sind goldfarben. Ein Topf voller Bienen. Eine Goldmünze mit Stachel.
»Meine Eltern kennen ihre Eltern«, sagt Scarmiglia noch. »Sie haben sie adoptiert und nach Italien geholt.«
Weitere Wörter, die durch die Ritzen in den Kopf eindringen, zermahlene Wörter in Sätzen, die ihnen Existenz und Geschichte geben, Silben, die in mich eindringen und sich mit dem Blütenstaub und der Asche mischen. Mit der Stimme Scarmiglias kam die Ansteckung: Ich weiß jetzt, dass ›kreolisches Mädchen‹ ein unzulänglicher Name war, dass es irreal war, an ein von allem getrenntes Wesen zu denken, dass Wimbow existiert, handelt, da ist.
Der Bus kommt, die Leute steigen ein. Von außen sehe ich die waagrechten und senkrechten Stangen, die Hände, die danach greifen. Scarmiglia nimmt seine Sachen und steht auf, ich bleibe sitzen. Er dreht sich zu mir hin, mit dem Rücken zum Bus, der Motor dröhnt, und der Auspuff stößt schwarzen Rauch aus.
»Sie ist stumm«, sagt er.
Dann verabschiedet er sich mit einer Geste, steigt aufs Trittbrett und verschwindet zwischen den Körpern; die Drucklufttüren schließen sich, der Bus fährt weiter, und ich bleibe allein zurück.
Die Mauer unter mir ist aus Stein; wie jeder Stein ist er stumm. Der rissige Asphalt ist stumm. Der Baum, die Straßenlampe. Der Blütenstaub, die Asche. Das kreolische Mädchen ist stumm. Heute, am 17. Juli 1978, ist ihr Geburtstag. Ihr neuer Vater, ihre neue Mutter. Sie berühren ihren Kopf, die dunkle Haut. Sie geben ihr Geschenke, Cousins und Cousinen sind da, ein cremefarbenes Tischtuch. Vielleicht ein Garten, ein Haus auf dem Land. Sie packt die Geschenke aus, schaut sie in Ruhe an, dreht die Kartons um, damit sie die Gebrauchsanweisungen lesen kann, berührt sanft Augen aus Keramik, Haar aus Nylon. Dann berührt sie ihr eigenes Haar, und auf dem Handrücken, wo sie den kleinen hellen Fleck hat, spürt sie etwas Warmes und Weiches. Ihre Eltern halten sich, ohne Grund, für unzulänglich. Die Mutter glättet ständig die Falten auf dem Tischtuch, der Vater schießt Fotos. Vielleicht stellen sie ihr Fragen, sie und die Cousins und Cousinen; sie antwortet
mit besonnenem Lächeln. Dann wird die Torte gebracht, die groß ist und alle Torten der Welt enthält und die Torten der verpassten Zeit und Millionen Kerzen, für jeden Atemzug von ihr eine. Und Wimbow bündelt ihr ganzes Sein in den Atem und bläst die Infektion der Stille in die Welt: Die Flämmchen an den rosa und himmelblauen Enden beben und winden sich, und um sie herum ist eine Schar aus Köpfen und Stimmen, die sie rufen und anspornen, aber es gibt keinen Ton, keinerlei Ton, nie irgendeinen Ton, und mit einem neuerlichen Blasen verschwinden die Flammen, und Wimbow ist ein Jahr älter und weiß alles, und ihr Blut fließt ruhig und rot, so rot, in ihrem Körper und überall. Und ich bin noch immer hier, in meinem mineralischen Leben, in Gesellschaft der Wörter.
Eklipse
August 1978
Bocca und Scarmiglia sind fort. Bocca ist mit seiner Familie in den Norden gereist; Scarmiglia ist in Castelbuono bei Verwandten. Ich verbringe viel Zeit im Haus, töte, was ich finde. Würmer. Ameisen. Nur keine Bienen. Für die Ameisen habe ich eine Methode. Ich stelle ein Gift aus Reinigungsmitteln her, die ich in einer kleinen Flasche mische. Dazu gebe ich DDT, Idrolitina und das Acqua Velva vom Stein. Ich mache die Flasche zu und schüttele. Gehe in den Garten hinaus, bis zum Beet vor der Hecke mit den Katzen, weil ich weiß, dass dort die Ameisennester sind. Ich suche zwei,
Weitere Kostenlose Bücher