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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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drei Eingänge, wo die Erde weicher ist, und gebe das Gift hinein. Die Ameisen kommen heraus, klettern über das Beet, wimmeln über das Pflaster des Wegs. Ich schüttele das Gift erneut und verteile es in den Fugen des Pflasters, es bildet sich eine unüberwindliche flüssige Mauer, die ein gasiges Geräusch macht. Die Ameisen bleiben im Gift gefangen, die eine oder andere befreit sich, doch ihre Beine sind nass, und sie schleppt sich weg. Wenn die Flasche fast leer ist, gehe ich mit den letzten Tropfen sparsam um und versuche mit ihnen die dicksten Ameisen zu treffen, sie einzeln zu ertränken. Dann gehe ich ins Haus, spüle die Flasche lange unter dem Wasserhahn im Badezimmer aus; mit Ausspülen vergeht der ganze Tag.
    Manchmal mache ich den Fernseher an. Nachmittags zeigen sie Filme. Don Camillo und Peppone, Franco Franchi und Ciccio Ingrassia. Italien versteht nur Masken, eindimensionale Personen. Vieni avanti cretino . La paura del Sarchiapone . Sobald eine Person komplexer ist, wird sie gleich verdächtig. Eines Tages
sehe ich mir Tina Pica in Pane, amore e fantasia an. Sie spielt Caramella. Mir gefällt es, wenn sie schreit. Sie schreit immer. Oder sie brummt und macht Vorwürfe. Moralisiert. Ich glaube, sie hat begriffen, dass eine bestimmte italienische Wesensart so ist und dass es sich lohnt, sie darzustellen. Eine auf Vorwurf gegründete Republik. Die Stimme schwillt an, mühsam wird der Schrei erzeugt; dann kommt er heraus, und du bläst ihn weg wie Schaum.
    In diesen Monaten nach dem Tod von Moro werden in Italien die Grundlagen des politischen Kanons neu bestimmt. Leone war schon seit Jahren irreal und ist weg. Der schwammige Körper, das meckernde Stimmchen, die Hand, die sich mit dem Zeichen der Hörner beschwörend senkt, um Studenten und Cholera zu bannen: Das war untragbar. Dem Gemeckere musste etwas Konsistenteres, etwas Strengeres entgegengesetzt werden. Pertini ist immer noch Italien, doch er hat einen anderen Ton. Der Zeit angemessener. Fest, ernst, mit genau dem Anteil seniler Benommenheit, der so menschlich macht. Und dann seine Vergangenheit als Partisan, der Antifaschismus, die Flucht aus der politischen Haft; die sozialistische Identität, aber die eines ursprünglichen Sozialismus. Kurz und gut: das richtige Symbol zum richtigen Zeitpunkt, das Land, dessen Teile wieder zusammengefügt werden, die Wahrung der nationalen Einheit, erlangt durch einen polternden Präsidenten und die Präambeln der Verfassung.
    Tina Pica ist also perfekt. Sie ist Sandro Pertini als Frau. Die gleiche Stimme, das gleiche harsche, sanguinische Temperament. Wenn ich mich jedoch dem Bildschirm nähere und sie beschnuppere, mit ihrer Häkelstola um die Schultern, nehme ich einen Geruch nach altem Weihrauch wahr, der zuerst in der Nase, dann in der Kehle ankommt. Die Sakristei. Der Weihrauchkessel. Die Tabernakelatmosphäre. Ein Geruch, der mich trotz der Gewöhnung - es ist der Geruch von Palermo und von Italien - noch immer aufwühlt. Er ist anachronistisch. Er lässt dunkle, ländliche, zäh-kleinbürgerliche Bilder vor mir entstehen, eine Erweiterung der Postkarten, die im Intervallo langsam vorbeiziehen. Eine endlose
Masse von Häkelstolen, Spitzendeckchen, Nippesfiguren und fleckigen Schrankspiegeln. Wassergläser, auf denen man, wie in einem durchscheinenden Albtraum, Ablagerungen von Speichel erkennt, Schicht auf Schicht. Ich weiß, wenn ich ganz nah an der Haut von der Schnur und vom Stein schnüffeln würde, könnte ich diesen Geruch wahrnehmen. Und wenn ich an meiner Haut rieche - im Ellbogen, am Handrücken -, treten mir Tränen in die Augen.
     
    Am Vormittag gehe ich ans Meer. Manchmal allein, andere Male mit der Schnur und dem Lappen. Wenn wir dort sind, sondere ich mich von den anderen ab. Ich lese, gehe spazieren. Laufe bis zum freien Strand, suche Morana, finde ihn nicht. Einmal sehe ich die mit den Maulbeeren, die Dialektfamilie. Sie erkennen mich wieder, fragen mich mit einer Geste, ob ich eine Maulbeere will, ich sage Nein, gehe weiter. Komme an einer Gruppe Jungen vorbei, da sind auch zwei Hunde, die im Sand spielen, ihn aufwirbeln. Ein Junge redet mit einem anderen, schreit ihn an: Stronzo, aber sie spielen trotzdem. Ich behalte das Wort stronzo ein wenig im Kopf, es brummt, ist eine schwarze Hornisse. Ich öffne die Lippen halb, getraue mich, die erste Silbe zu artikulieren, komme nur bis zum O. Das reicht. Als ich zurückkehre, schließe ich mich in das kühle Halbdunkel der Kabine ein. Aus

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