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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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irgendeine nützliche Information zu finden. Entmutigt ging ich zu den Zeichnungen über. Oben stand das Datum, darunter fanden sich primitive
Häuser, eine Blume mit rautenförmigen Blütenblättern, eine riesige schwarze Katze mit einem dreieckigen Kopf. An dem Tag, als die Schnur die Fehlgeburt erlitt, hatte er ein Gefäß gezeichnet. Einen gläsernen Zylinder. Er war groß, füllte die ganze Seite aus. Und er enthielt ein Brötchen, ganz ähnlich dem, das er seit zwei Wochen hegte und pflegte und in den letzten Tagen zu retten versuchte. Als ich die Seite betrachtete, fragte ich mich, weshalb er ausgerechnet diese Zeichnung gemacht hatte, was sie bedeutete. Dann, als ich mir eine Krümmung der Kruste ansah, die einem kleinen zusammengezogenen Bein ähnelte, begriff ich, dass der Lappen kein Brötchen gezeichnet hatte, sondern den winzigen Körper eines Neugeborenen; ein Neugeborenes, das in einer Art schmutzigem Wasser schwamm, einer Mischung aus Schwarz und Gelb und Grau.
    Auf der nächsten Seite war eine klassische Zeichnung, eine einfallslose Aufgabe, die man seit undenklichen Zeiten in der Schule bekommt: Zeichne deine Familie. Am äußersten linken Rand der Seite hatte der Lappen den Stein gezeichnet, sein Körper gedrungen und kräftig; neben den Stein die Schnur, dünner und mit großer Nase; dann kam ich, mit braunem Haar und einem Mund, auf dem der schwarze Stift abgebrochen sein musste und der deshalb wie ein Schlund aussah; neben mir war er selbst, die Arme seitlich angelegt, den Kopf zu einer Seite geneigt. Am äußersten rechten Rand des Blatts, neben sich und entsprechend kleiner, hatte er das Gefäß mit dem Neugeborenen-Brötchen darin gezeichnet. Auf der übernächsten Seite fand sich der Aufsatz über den Ausflug ins Naturkundemuseum, wo auch ich, ein paar Jahre vorher, mit der Schule gewesen war und wo auf diversen Konsolen Gläser mit Föten in Formalin aufgereiht waren. Der Lappen hatte kein Neugeborenes gezeichnet: Er hatte einen Fötus gezeichnet, die Form dessen, was er nicht verstanden hatte.
    Als er zurückkam, hätte ich gern mit ihm gesprochen, doch irgendetwas hinderte mich daran, eine Art Scham; ich beschränkte mich also darauf, ihn aus der Ferne zu beobachten. Nachdem er ferngesehen hatte, ging er in die Küche, öffnete
den Kühlschrank und holte das Bündel heraus, das er zwei Stunden zuvor samt rotem Wolltuch hineingelegt hatte. Er machte es auf, entfernte auch die transparente Folie. Der Körper seines Brötchens war vollkommen zerfallen, die Auflösung inzwischen unaufhaltsam. Die Kruste war nur noch eine hauchdünne Schicht, allenfalls durch das Aufbewahren im Kühlschrank vorübergehend gefestigt, doch schon wieder feucht und weich. Wenigstens vier Risse durchfurchten sie tief, die Krume war schwarz geworden. Der Lappen stand still da, mit dem Brötchen in einer Hand, und sah es sterben. Er ging ans Waschbecken, drehte den Hahn auf, zögerte, drehte ihn wieder zu, trat auf den Balkon, setzte das Brötchen der Abendluft aus, kam ins Haus zurück. Schließlich sagte er dem Stein und der Schnur - die verfolgten, was geschah, und zum Glück nicht eingriffen - mit dem Brötchen hinter seinem Rücken Gute Nacht und verschwand im Schlafzimmer; nach zwei Minuten folgte ich ihm.
    Der Lappen saß auf der Bettkante, leicht nach vorn gebeugt, und löste mit Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen der rechten Hand kleine Stücke aus dem Brötchen, das er in der linken hielt. Er löste sie heraus und aß sie. Als er mich hereinkommen hörte, ließ er es einen Moment sein und sah mich an, dann machte er weiter damit, Bissen herauszulösen und zu essen. Sie waren grün und schwärzlich, zerbröckelten zwischen seinen Fingern. Ohne irgendetwas zu sagen, setzte ich mich neben ihn. So blieb ich sitzen, bei diesem Lappen, unfähig, mit ihm zu sprechen. Doch da ja jede Beziehung Stille ist, streckte ich eine Hand nach dem Brötchen aus, löste ein Stückchen heraus und fing ebenfalls an, die Trauer zu essen.
     
    Nachdem ich ein paar Tage damit verbracht habe, mir auf der Suche nach kleinen Katzen, die ich nehmen und beschnuppern könnte, in der Hecke die Arme zu zerkratzen, ziehe ich lange Hosen an, nehme einen Chenillepullover, eine Plastiktüte und den Stacheldraht und mache mich auf den Weg nach Addaura, ein kleines Stück nördlich von Mondello, gehe zwischen den Häusern
durch, die man an die Hänge eines Bergs gebaut hat, der sich am Abend blau färbt.
    Ich komme an, um mich herum blühen

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