Die Glasglocke (German Edition)
feststellen konnte, was in ihn gefahren sein mochte, war er verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugeworfen.
Als ich Doreen später von seinem seltsamen Benehmen erzählte, sagte sie: »Dummchen, er wollte sein Trinkgeld.«
Ich fragte, wieviel ich ihm hätte geben sollen, und sie meinte, wenigstens einen Vierteldollar, und wenn der Koffer sehr schwer war, fünfunddreißig Cent. Ich hätte diesen Koffer auch ohne weiteres selbst auf mein Zimmer tragen können, aber der Page wirkte so eifrig, deshalb ließ ich ihn machen. Ich dachte, dieser Service sei im Preis für das Hotelzimmer inbegriffen.
Ich hasse es, Leuten Geld für etwas zu geben, das ich genausogut selbst tun kann, es macht mich nervös.
Doreen meinte, man sollte zehn Prozent Trinkgeld geben, aber irgendwie hatte ich nie das passende Kleingeld dabei und wäre mir furchtbar albern vorgekommen, wenn ich jemandem einen halben Dollar gegeben und gesagt hätte: »Fünfzehn Cent sind für Sie, bitte geben Sie mir fünfunddreißig zurück.«
Als ich in New York zum erstenmal ein Taxi nahm, gab ich dem Fahrer zehn Cent Trinkgeld. Das Fahrgeld betrug einen Dollar, deshalb dachte ich, zehn Cent seien genau richtig und überreichte dem Fahrer lächelnd und mit einer schwungvollen Gebärde mein Zehncentstück. Aber er ließ es in der offenen Hand liegen und starrte und starrte, und als ich ausstieg – inständig hoffend, daß ich ihm nicht irrtümlich ein kanadisches Zehncentstück gegeben hatte –, begann er zu schimpfen: »Lady, ich muß genauso leben wie Sie und alle anderen« – so laut, daß ich es mit der Angst bekam und zu laufen begann. Zum Glück wurde er durch eine Ampel aufgehalten, ich glaube, er wäre sonst neben mir her gefahren und hätte mich weiter in dieser unangenehmen Weise beschimpft.
Als ich Doreen deswegen fragte, meinte sie, vielleicht sei der Satz für das Trinkgeld seit ihrem letzten Besuch in New York gestiegen – oder dieser Taxifahrer sei ein besonders mieser Typ gewesen.
Ich griff nach dem Buch, das die Leute von Ladies' Day geschickt hatten.
Als ich es öffnete, fiel eine Karte heraus. Auf der Vorderseite sah man einen Pudel in einer geblümten Schlafanzugjacke traurig in einem Körbchen sitzen, und auf der Innenseite lag der Pudel lächelnd und tief schlafend in dem Körbchen ausgestreckt, unter einem Sticktuch, auf dem zu lesen stand: »Wer so brav ruht, demgeht's bald gut.« Unten auf die Karte hatte jemand mit lavendelfarbener Tinte geschrieben: »Gute Besserung! Von all Ihren guten Freunden bei Ladies' Day .«
Ich blätterte die Geschichten durch, bis ich auf eine stieß, die von einem Feigenbaum handelte.
Dieser Feigenbaum stand auf einer grünen Wiese zwischen dem Haus eines jüdischen Mannes und einem Kloster, und regelmäßig trafen sich der jüdische Mann und eine schöne, dunkelhäutige Nonne unter dem Baum, um die reifen Feigen zu pflücken, bis sie eines Tages beobachteten, wie in einem Nest auf einem Ast des Baumes ein Junges aus einem Ei schlüpfte, und während sie zusahen, wie sich das Vögelchen aus seinem Ei pickte, berührten sich ihre Handrücken, und danach kam die Nonne nicht mehr, um mit dem jüdischen Mann Feigen zu pflücken, statt dessen kam ein katholisches Küchenmädchen mit einem häßlichen Gesicht, und jedesmal, wenn sie fertig waren, zählte dieses Mädchen die Feigen, die der Mann gepflückt hatte, nach, um sicherzugehen, daß er nicht mehr genommen hatte als sie, und der Mann wurde wütend.
Mir gefiel die Geschichte sehr, vor allem der Teil über den Feigenbaum im winterlichen Schnee und den Feigenbaum im Frühling mit all den grünen Früchten. Ich fand es schade, als ich die letzte Seite erreicht hatte. Am liebsten wäre ich zwischen den schwarzen Zeilen hindurchgekrochen, wie durch einen Zaun, und hätte mich unter diesem schönen, großen, grünen Feigenbaum schlafen gelegt.
Es kam mir vor, als sei es Buddy Willard und mir ähnlich ergangen wie diesem jüdischen Mann und dieser Nonne, obwohl wir natürlich nicht jüdisch oder katholisch waren, sondern unitarisch. Wir waren uns unter unserem eigenen imaginären Feigenbaum begegnet, und was wir gesehen hatten, war kein Vogel, der aus einem Ei, sondern ein Baby, das aus einer Frau gekommen war, und dann war etwas Schreckliches geschehen, und jeder war seiner eigenen Wege gegangen.
Während ich in meinem weißen Hotelbett lag und mich einsam und schwach fühlte, dachte ich an Buddy Willard, der noch einsamer und noch schwächer in
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