Die Glasglocke (German Edition)
etwas, das mir zeigen würde, was ich zu tun hätte. Weiter links neben dem Schuh sah ich undeutlich einen Haufen blaue Kornblumen auf weißem Grund und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Es war der Ärmel meines eigenen Bademantels, den ich da sah, und an seinem Ende lag meine linke Hand, blaß wie ein Kabeljau.
»Ihr geht es gut jetzt.«
Die Stimme kam aus einer kühlen, vernünftigen Gegend hoch über meinem Kopf. Einen Augenblick lang fiel mir nichts Sonderbares an ihr auf, dann kam sie mir doch sonderbar vor. Es war eine Männerstimme, und Männern war der Zutritt zu unserem Hotel weder tagsüber noch nachts gestattet.
»Wie viele sind es noch?« fuhr die Stimme fort.
Ich hörte mit Interesse zu. Der Boden kam mir jetzt wunderbar stabil vor. Es war tröstlich zu wissen, daß ich gefallen war und nicht weiter fallen konnte.
»Elf, glaube ich«, antwortete eine Frauenstimme. Mir war, als müßte sie zu dem schwarzen Schuh gehören. »Ich glaube, es sind noch elf, aber eine fehlt, also zehn.«
»Na schön, bringen Sie die hier in ihr Bett, ich kümmere mich um die anderen.«
Ich hörte, wie ein dumpfes Bumbum in meinem rechten Ohr immer leiser wurde. Irgendwo in der Ferne öffnete sich eine Tür, Stimmen und Stöhnen, und die Tür schloß sich wieder.
Zwei Hände schoben sich unter meine Achseln, und die Frauenstimme sagte: »Komm, Kindchen, das schaffen wir schon!« Ich fühlte, wie ich angehoben wurde, und dann setzten sich die Türen neben mir langsam in Bewegung, eine nach der anderen wanderten sie vorüber, bis wir zu einer offenen Tür kamen und hineinglitten.
Das Laken auf meinem Bett war zurückgeschlagen. Die Frau half mir beim Hinlegen, deckte mich bis zum Kinn zu und ruhte sich dann einen Augenblick in dem Sessel neben meinem Bett aus, wobei sie sich mit einer dicken, rosa Hand Luft zufächelte. Sie trug eine Goldrandbrille und ein weißes Schwesternkäppchen.
»Wer sind Sie?« fragte ich mit schwacher Stimme.
»Ich bin die Hotelschwester.«
»Und was ist mit mir?«
»Vergiftet«, sagte sie kurz. »Vergiftet, die ganze Truppe. So was habe ich noch nicht erlebt. Alles vollgekotzt, was habt ihr Fräuleins bloß gegessen?«
»Sind die anderen auch krank?« fragte ich hoffnungsvoll.
»Die ganze Truppe«, versicherte sie genüßlich. »Hundeelend, und alle weinen nach der Mama.«
Der Raum um mich schwankte gemächlich, als würden die Sessel und Tische und Wände aus Rücksicht auf meine plötzliche Schwäche mit ihrem Gewicht hinter dem Berg halten.
»Der Doktor hat Ihnen eine Spritze gegeben«, sagte die Krankenschwester von der Tür her. »Sie werden jetzt erst mal schlafen.«
Dann nahm die Tür ihren Platz ein, wie ein weißes Blatt Papier, und dann nahm ein größeres Blatt Papier den Platz der Tür ein, und ich glitt darauf zu und sank lächelnd in den Schlaf.
Neben meinem Kopfkissen stand jemand mit einer weißen Tasse.
»Trink das.«
Ich schüttelte den Kopf. Das Kopfkissen knisterte wie ein Strohhaufen.
»Trink das, dann geht es dir besser.«
Eine dicke weiße Porzellantasse wurde mir unter die Nase gehalten. In dem dämmrigen Licht, das genausogut Abend wie früher Morgen sein konnte, betrachtete ich die klare, bernsteinfarbene Flüssigkeit. Fettaugen schwammen auf der Oberfläche, und ein schwacher Duft von Hühnchen stieg mir in die Nase.
Meine Augen tasteten sich zu dem Rock hinter der Tasse vor.
»Betsy«, sagte ich.
»Nichts da, Betsy. Ich bin's!«
Ich hob die Augen und sah die Silhouette von Doreens Kopf vor dem fahlen Fenster, die Spitzen ihres blonden Haars von hinten erleuchtet, wie ein goldener Heiligenschein. Ihr Gesicht lag im Schatten, so daß ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, aber ich spürte, wie von ihren Fingerspitzen eine Art sachverständiger Zärtlichkeit ausging. Sie hätte genausogut Betsy oder meine Mutter oder eine nach Farn duftende Krankenschwester sein können.
Ich senkte den Kopf und nippte an der Brühe. Es kam mir vor, als wäre mein Mund aus Sand. Ich nippte noch mal und noch mal und nochmal, bis die Tasse leer war.
Ich fühlte mich geläutert und heilig und bereit zu einem neuen Leben.
Doreen stellte die Tasse auf die Fensterbank und ließ sich in den Sessel sinken. Mir fiel auf, daß sie keine Anstalten machte, sich eine Zigarette anzuzünden, und das überraschte mich, denn sie war Kettenraucherin.
»Du wärst fast gestorben«, sagte sie schließlich.
»Wahrscheinlich all der Kaviar.«
»Nichts da, Kaviar! Es
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