Die Glasglocke (German Edition)
seinem Sanatorium in den Adirondack-Bergen lag, und kam mir vor wie ein Scheißkerl von der schlimmsten Sorte. In seinen Briefen erzählte mir Buddy immer wieder, er lese Gedichte von einem Dichter, der auch Arzt gewesen war, und außerdem sei er auf einen berühmten, toten russischen Erzähler gestoßen, der ebenfalls Arzt gewesen war, also könnten Ärzte und Schriftsteller letztlich vielleicht doch miteinander auskommen.
Das klang allerdings ganz anders als das, was Buddy Willard während der zwei Jahre, in denen wir uns nähergekommen waren, von sich gegeben hatte. Ich weiß noch, wie er mich eines Tages anlächelte und sagte: »Esther, weißt du, was das ist – ein Gedicht?«
»Nein, was denn?« fragte ich.
»Ein Haufen Staub.« Er schien so stolz auf diesen Einfall, daß ich bloß sein blondes Haar und die blauen Augen und die weißen Zähne – er hatte sehr große weiße Zähne – anstarrte und sagte: »Vermutlich!«
Erst mitten in New York und ein ganzes Jahr später fiel mir endlich eine Antwort auf diese Bemerkung ein.
In Gedanken führte ich oft lange Gespräche mit Buddy Willard. Er war ein paar Jahre älter als ich und sehr wissenschaftlich veranlagt, deshalb konnte er alles beweisen. Wenn ich mit ihm zusammen war, mußte ich mich immer anstrengen, den Kopf über Wasser zu halten.
Diese Gedankengespräche gingen meistens von Gesprächen aus, die ich wirklich mit Buddy geführt hatte, aber sie endeten damit, daß ich ihm ziemlich scharfe Antworten gab, statt nur dazusitzen und zu sagen: »Vermutlich.«
Während ich da nun im Bett lag, stellte ich mir vor, Buddy würde sagen: »Esther, weißt du, was das ist – ein Gedicht?«
»Nein, was denn?« würde ich sagen.
»Ein Haufen Staub.«
Gerade wenn er zu lächeln anfing und ein stolzes Gesicht machte, würde ich sagen: »Das sind die Leichen, die du aufschneidest, doch auch. Und die Leute, die du zu heilen glaubst, auch. Sie sind Staub und nochmals Staub. Ich schätze, ein gutes Gedicht hält eine ganze Weile länger, als hundert von diesen Leuten zusammengenommen.«
Und natürlich würde Buddy hierauf keine Antwort haben, denn was ich sagte, stimmte. Die Menschen bestanden in erster Linie aus Staub, und ich verstand nicht, warum es besser sein sollte, all diesen Staub zu verarzten, als Gedichte zu schreiben, an die sich die Leute erinnerten und die sie sich aufsagten, wenn sie unglücklich oder krank waren oder nicht schlafen konnten.
Mein Problem war, daß ich alles, was Buddy Willard sagte, für bare Münze nahm. Ich erinnere mich noch an den Abend, an dem er mich zum erstenmal küßte. Es war nach dem Jahrgangsball in seinem vorletzten Jahr in Yale.
Buddy hatte mich auf eine merkwürdige Art und Weise zu diesem Ball eingeladen.
Während der Weihnachtsferien tauchte er eines Tages unverhofft bei uns zu Hause auf, in einem dicken weißen Rollkragenpullover, in dem er so gut aussah, daß ich ihn immerzu anstarren mußte, und sagte: »Vielleicht besuche ich dich irgendwann mal in deinem College, okay?«
Mir blieb die Spucke weg. Ich sah Buddy nur in der Kirche, sonntags, wenn wir beide vom College zu Hause waren, und nur aus der Ferne, und konnte mir nicht vorstellen, wie er auf die Idee gekommen war, herüberzukommen und mich zu besuchen – er habe auf den zwei Meilen zwischen unseren Häusern Geländelauf trainiert, sagte er.
Unsere Mütter waren zwar gute Freundinnen. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten beide ihre Professoren geheiratet und sich im gleichen Städtchen angesiedelt, aber Buddywar nie da. Im Herbst hatte er ein Stipendium für einen Vorbereitungskurs auf das College, und im Sommer verdiente er sich Geld beim Kampf gegen den Blasenrost in Montana – daß unsere Mütter alte Schulfreundinnen waren, konnte also nicht der Grund sein.
Nach diesem plötzlichen Besuch hörte ich lange nichts von Buddy, erst wieder an einem schönen Samstagmorgen Anfang März. Ich saß auf meinem Zimmer im College und war für meine Geschichtsprüfung über das Thema Kreuzzüge am folgenden Montag mit Peter dem Einsiedler und Walter dem Habenichts beschäftigt, als das Flurtelefon klingelte.
Eigentlich sollten alle reihum abwechselnd das Flurtelefon abnehmen, wenn es klingelte, aber da ich die einzige im ersten Jahr auf einem Flur mit lauter Studentinnen im letzten Jahr war, ließen sie meistens mich gehen. Ich wartete einen Augenblick, ob mir vielleicht jemand zuvorkäme. Dann fiel mir ein, daß die anderen vielleicht draußen
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