Die Glasglocke (German Edition)
weg.
Den ganzen Juni hindurch hatte der Schreibkurs wie eine strahlende, sichere Brücke über den sommerlichen Abgrund der Langeweile vor mir gelegen. Jetzt sah ich, wie diese Brücke schwankte und einstürzte und wie ein Körper in einer weißen Bluse und einem grünen Rock in die Tiefe fiel.
Dann verzog sich mein Mund und wurde mürrisch.
Ich hatte es erwartet.
Ich rutschte auf meinem Sitz abwärts, bis sich meine Nase auf der Höhe der Unterkante des Wagenfensters befand, und sah zu, wie die Häuser der Außenbezirke von Boston vorüberglitten. Als die Häuser vertrauter wurden, rutschte ich noch tiefer.
Es schien mir sehr wichtig, daß niemand mich erkannte.
Über meinem Kopf schloß sich das graue, gepolsterte Wagendach wie das Dach eines Gefängniswagens, und die leuchtend weißen, immergleichen Schindelhäuser mit den Lücken aus gepflegtem Grün dazwischen wanderten eines nach dem anderen vorüber wie die Gitterstäbe eines geräumigen, aber ausbruchsicheren Käfigs.
Noch nie hatte ich einen Sommer in den Vororten verbracht.
Das Sopranquietschen von Kinderwagenrädern tat mir in den Ohren weh. Sonne sickerte durch das Rollo und füllte das Schlafzimmer mit schwefelgelbem Licht. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber ich fühlte mich völlig erschöpft.
Das zweite Bett neben meinem war leer und ungemacht.
Um sieben hatte ich gehört, wie meine Mutter aufgestanden war, wie sie sich leise angezogen hatte und auf Zehenspitzen hinausgegangen war. Dann surrte unten die Saftpresse, und der Duft von Kaffee und Schinken drang nach oben. Dann lief Wasser aus dem Hahn ins Spülbecken und das Geschirr klirrte, während meine Mutter es abtrocknete und in den Schrank räumte.
Dann wurde die Haustür geöffnet und wieder geschlossen. Dann wurde die Autotür geöffnet und wieder geschlossen, und der Motor begann ein Gebrumm, das sich auf knirschendem Kies davonschlich und schließlich in der Ferne verklang.
Meine Mutter unterrichtete Stenographie und Maschineschreiben an einem Mädchencollege in der Stadt und würde erst am Nachmittag zurückkommen.
Wieder quietschte der Kinderwagen vorüber. Anscheinend schob jemand ein Baby unter meinem Fenster hin und her.
Ich glitt aus dem Bett und kroch auf Händen und Knien vorsichtig zum Fenster, um nachzusehen, wer es war.
Unser kleines, mit weißem Holz verkleidetes Haus stand auf einem kleinen grünen Rasen an der Ecke zweier friedlicher Vorstadtstraßen, aber trotz der kleinen Ahornbäume, die in regelmäßigen Abständen um unser Grundstück gepflanzt waren, konnte jeder, der auf dem Gehweg vorüberkam, durch die Fenster im ersten Stock sehen, was dort vor sich ging.
Das hatte mir unsere Nachbarin von nebenan klargemacht, eine boshafte Frau namens Mrs. Ockenden.
Mrs. Ockenden war, bevor sie in den Ruhestand trat, Krankenschwester gewesen und hatte vor kurzem ihren dritten Mann geheiratet – die beiden anderen waren unter merkwürdigen Umständen gestorben –, und sie verbrachte ungewöhnlich viel Zeit damit, hinter den gestärkten weißen Vorhängen ihrer Fenster auf der Lauer zu liegen.
Zweimal hatte sie meine Mutter meinetwegen angerufen – einmal, um ihr mitzuteilen, ich hätte eine Stunde lang in einem blauen Plymouth unter der Straßenlampe vor dem Haus gesessen und jemanden geküßt, und das andere Mal, um ihr zu sagen, ich sollte lieber das Rollo in meinem Zimmer herunterziehen, sie hätte mich eines Abends, als sie zufällig ihren Scotchterrier ausführte, halbnackt gesehen, als ich mich gerade für das Zubettgehen fertig machte.
Vorsichtig hob ich die Augen über die Fensterbank.
Eine Frau, kaum einsfünfzig groß, mit einem grotesk vorstehenden Bauch, schob einen alten schwarzen Kinderwagen die Straße entlang. Zwei oder drei verschieden große Kinder, alle bleich, alle mit schmuddeligen Gesichtern und nackten, schmuddeligen Knien, watschelten im Schatten ihres Rockes daher.
Ein heiteres, fast gläubiges Lächeln leuchtete auf dem Gesicht der Frau. Ihren Kopf, der wie ein Spatzenei auf einem Entenei saß, hatte sie zurückgebogen und lächelte in die Sonne.
Ich kannte die Frau gut.
Es war Dodo Conway.
Dodo Conway war katholisch und hatte das Barnard College besucht, und nachher hatte sie einen Architekten geheiratet, der die Columbia University besucht hatte und ebenfalls katholisch war. Sie wohnten in einem weitläufigen Haus, das hinter einer morbiden Kiefernfassade weiter oben an der Straße lag, zwischen Tretrollern,
Weitere Kostenlose Bücher