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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Plath
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hatte die Stadt ihre Lichter in Schlaf getaucht, die Gebäude waren verdunkelt wie zu einem Begräbnis.
    Es war meine letzte Nacht.
    Ich griff nach dem Bündel, das ich mitgebracht hatte, und zerrte an einem weißlichen Ende. Ein trägerloser Unterrock mit einem Gummiband, das im Laufe der Zeit seine Elastizität verloren hatte, schlappte mir in die Hand. Ich schwenkte ihn wie eine Parlamentärsfahne, einmal, zweimal … Der Wind griff nach ihm, und ich ließ los.
    Eine weiße Flocke schwebte hinaus in die Nacht und begann langsam zu sinken. Ich fragte mich, auf welcher Straße, auf welchem Dach sie zur Ruhe kommen würde.
    Ich zerrte wieder an dem Bündel.
    Der Wind gab sich Mühe, aber er schaffte es nicht, und ein Fledermausschatten landete auf dem Dachgarten des Penthouse gegenüber.
    Stück für Stück verfütterte ich meine Garderobe an den Nachtwind, und wie die Asche eines geliebten Menschen wurde sie in einem Gestöber grauer Fetzen davongetragen, die sich hier und dort, wo genau, würde ich nie erfahren, im dunklen Herzen von New York niederließen.

Zehn
    Das Gesicht im Spiegel sah aus, als gehörte es einem kranken Indianer.
    Ich ließ die Puderdose in meine Handtasche zurückgleiten und starrte aus dem Zugfenster. Wie ein riesiger Schrottplatz flogen die Sümpfe und Hinterhöfe von Connecticut vorüber, ein verkommenes Trümmerstück nach dem anderen, ohne jeden Zusammenhang.
    Was für ein Durcheinander die Welt war!
    Ich sah auf meinen ungewohnten Rock und die Bluse.
    Es war ein grüner Dirndlrock, auf dem winzige Formen in Schwarz, in Weiß und in elektrischem Blau wimmelten, und er stand ab wie ein Lampenschirm. Statt Ärmel hatte die durchbrochene weiße Bluse Rüschen an den Schultern, die sich wie Engelsflügel bauschten.
    Ich hatte vergessen, ein paar Sachen für tagsüber aufzuheben, als ich meine Kleider über New York fliegen ließ, deshalb hatte ich mit Betsy die Bluse und den Rock gegen den Kornblumenbademantel getauscht.
    Eine schwache Spiegelung von mir, weiße Flügel, brauner Pferdeschwanz und so weiter, geisterte über die Landschaft.
    »Pollyanna Cowgirl«, sagte ich laut vor mich hin. Auf dem Platz mir gegenüber sah eine Frau von ihrer Zeitschrift hoch.
    Im letzten Moment hatte ich keine Lust gehabt, die beiden schrägen Streifen aus getrocknetem Blut auf meinen Wangen abzuwaschen. Ich fand sie rührend und ziemlich eindrucksvoll und wollte sie mit mir herumtragen wie das Andenken an einen toten Liebhaber, bis sie von selbst verschwanden.
    Hätte ich gelächelt oder mein Gesicht viel bewegt, wäre das Blut natürlich im Nu abgeblättert, deshalb verzog ich mein Gesicht nie, und wenn ich sprechen mußte, sprach ich durch die Zähne, ohne die Lippen zu bewegen.
    Eigentlich verstand ich nicht, warum mich die Leute so ansahen.
    Es gab jede Menge Leute, die seltsamer aussahen als ich.
    Mein grauer Koffer auf der Gepäckablage über mir war leer, abgesehen von den Dreißig besten Kurzgeschichten des Jahres , einem Sonnenbrillenetui aus weißem Plastik und zwei Dutzend Avocados, einem Abschiedsgeschenk von Doreen.
    Die Avocados waren unreif, damit sie sich länger hielten, und wenn ich den Koffer anhob oder herumtrug, kullerten sie mit einem eigentümlichen Poltern darin hin und her.
    »Highway Hundertachtundzwanzig!« brüllte der Schaffner.
    Die zahme Wildnis aus Kiefern, Ahorn und Eichen blieb stehen und hing wie ein schlechtes Bild im Rahmen des Zugfensters. In meinem Koffer rumpelte es, während ich mich durch den langen Gang schob.
    Aus dem klimatisierten Waggon trat ich auf den Bahnsteig, und schon hüllte mich der mütterliche Dunst der Vorortsiedlungen ein. Es roch nach Rasensprengern und Kombiwagen, nach Tennisschlägern und Hunden und kleinen Kindern.
    Die Sommerruhe hatte ihre beschwichtigende Hand über alles gebreitet, wie der Tod.
    Meine Mutter wartete neben dem handschuhgrauen Chevrolet.
    »Aber Liebes, was ist denn mit deinem Gesicht?«
    »Hab mich geschnitten«, sagte ich und kroch auf den Rücksitz, meinem Koffer nach. Ich wollte nicht, daß sie mich auf der ganzen Heimfahrt anstarrte.
    Das Polster fühlte sich glatt und sauber an.
    Meine Mutter schob sich hinter das Lenkrad, warf mir ein paar Briefe in den Schoß und drehte mir wieder den Rücken zu.
    Mit einem Schnurren kam Leben in den Wagen.
    »Besser, ich sage es dir gleich«, sagte sie, und ich sah ihrem Hals die schlechten Nachrichten schon an. »Mit dem Schreibkurs ist es nichts geworden.«
    Mir blieb die Luft

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