Die Glasglocke (German Edition)
Brief bekommen. Möchte wissen, ob das gleiche drinsteht.«
»Es geht ihm besser«, sagte Joan. »Er ist aus dem Krankenhaus.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Wirst du ihn heiraten?«
»Nein«, sagte ich. »Du?«
Joan grinste ausweichend. »Ich habe ihn sowieso nicht besonders gemocht.«
»Ach, wirklich?«
»Nein, ich habe seine Familie gern gehabt.«
»Du meinst Mr. und Mrs. Willard?«
»Ja.« Joans Stimme fuhr mir wie ein kalter Luftzug den Rücken hinunter. »Ich habe sie geliebt. Sie waren so nett, so glücklich, ganz anders als meine Eltern. Ich habe sie andauernd besucht« – sie hielt inne – »bis du dann kamst.«
»Tut mir leid.« Dann fügte ich hinzu: »Warum hast du sie nicht weiter besucht, wenn du sie so gern hattest?«
»Ach, das konnte ich nicht«, sagte Joan. »Nicht während du mit Buddy befreundet warst. Es hätte … ich weiß nicht, es hätte komisch ausgesehen.«
Ich überlegte. »Vermutlich.«
»Willst du …«, Joan zögerte, »daß er herkommt?«
»Ich weiß nicht.«
Zuerst hatte ich gedacht, es müsse schrecklich sein, Buddy zu mir in die Anstalt einzuladen – er würde wahrscheinlich nur aus Schadenfreude kommen und mit den anderen Ärzten fachsimpeln. Aber dann dachte ich, es könnte ein wichtiger Schritt sein: ihm sagen, was er mir bedeutete, ihm absagen, obwohl ich sonst niemanden hatte – ihm sagen, daß es keinen Simultandolmetscher gab, daß er einfach der Falsche sei, daß ich nicht mehr an ihm hinge.
»Und du?« fragte ich.
»Ja«, keuchte Joan. »Vielleicht bringt er seine Mutter mit. Ich werde ihn bitten, seine Mutter mitzubringen …«
»Seine Mutter ?«
Joan errötete. »Ich mag Mrs. Willard. Mrs. Willard ist eine wunderbare Frau. Sie war wie eine richtige Mutter zu mir.«
Ich sah Mrs. Willard vor mir, in ihrem Heidekraut-Tweed, in ihren soliden Schuhen, mit ihren klugen, mütterlichen Prinzipien. Mr. Willard war ihr kleiner Junge, und seine Stimme war hell und klar wie die eines kleinen Jungen. Joan und Mrs. Willard. Joan … und Mrs. Willard …
Ich hatte am Morgen an DeeDees Tür geklopft, weil ich ein paar Klaviernoten von ihr ausleihen wollte. Ich wartete einen Augenblick, und als keine Antwort kam, dachte ich, DeeDee sei nicht auf ihrem Zimmer und ich könnte mir die Noten von ihrer Kommode nehmen, öffnete die Tür und trat ein.
In Belsize, sogar in Belsize, hatten die Türen Schlösser, aber die Patienten besaßen keine Schlüssel. Eine geschlossene Tür bedeutete, daß jemand ungestört sein wollte, und es wurde respektiert wie eine verriegelte Tür. Man klopfte und klopfte noch einmal und ging dann wieder. Das fiel mir ein, als ich nach der Helligkeit des Flurs halbblind in der tiefen, nach Moschus duftenden Dunkelheit des Zimmers stand.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich eine Gestalt, die sich vom Bett erhob. Dann stieß jemandein leises Kichern aus. Die Gestalt ordnete sich das Haar, und zwei blasse Kieselsteinaugen sahen mir aus dem Dämmer entgegen. DeeDee lag ausgestreckt da, mit nackten Beinen unter dem grünen Wollmorgenmantel, und sah mich mit spöttischem Lächeln an. Eine Zigarette glühte zwischen den Fingern ihrer rechten Hand.
»Ich wollte bloß …«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte DeeDee. »Die Noten.«
»Hallo, Esther«, sagte Joan, und beim Klang ihrer Raspelstimme war mir nach Kotzen zumute. »Warte auf mich, Esther, ich komme mit, und spiele die Begleitung.«
Jetzt sagte Joan tapfer: »Ich habe Buddy Willard nie wirklich gemocht. Er glaubte immer, er wüßte alles. Er glaubte, er wüßte alles über Frauen …«
Ich sah Joan an. Obwohl sich alles in mir sträubte und trotz meiner alten, tiefen Abneigung faszinierte mich Joan. Es war, als würde ich einen Marsmenschen oder eine Kröte mit besonders vielen Warzen beobachten. Ihre Gedanken waren nicht meine Gedanken und ihre Gefühle nicht meine Gefühle, aber wir waren uns doch so nah, daß ihre Gedanken und Gefühle mir wie ein schwarzes Zerrbild meiner eigenen erschienen.
Manchmal fragte ich mich, ob ich mir Joan ausgedacht hatte. Und dann wieder fragte ich mich, ob sie auch weiterhin bei jeder Krise in meinem Leben auftauchen und mich daran erinnern würde, was ich gewesen war und was ich durchgemacht hatte, und ob sie auch in Zukunft ihre eigene und doch ähnliche Krise direkt vor meiner Nase durchleben würde.
»Ich verstehe nicht, was Frauen an Frauen finden«, hatte ich bei einem Gespräch am Nachmittag zu Mrs. Nolan gesagt. »Was
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