Die Glaszauberin pyramiden1
ich nicht den Mund halten können? »Ich dachte bloß… mit diesen vielen… und dem Glas…«
Er starrte mich noch einen Augenblick lang an, dann kam er zögernd zu dem Schluß, daß ich es nicht böse gemeint hatte. »Wir sind fast da«, sagte er kurz angebunden. »Yaqob, ich hoffe, du hast nicht vergessen, dein Maßband mitzubringen.«
Yaqob tätschelte die Werkzeugtasche, die von einem Gürtel um seine Hüften baumelte. »Ja, Exzellenz.«
Kofte war bereits um die nächste Biegung verschwunden, und Yaqob und ich eilten ihm hinterher. Ich hielt meinen Blick wieder gesenkt, nicht ganz so ängstlich wie zuvor, aber sicherlich wachsamer.
Mir blieb aber keine Zeit für weitere Überlegungen, denn vor mir öffnete sich die Kammer zur Unendlichkeit, und die vorige Vorahnung von einem kommenden Verlust kehrte zurück und steigerte sich zu unendlicher Trauer und Verzweiflung.
Trotz der Intensität dieser Gefühle konnte ich mich jetzt besser beherrschen und dachte nicht daran, mich davon überwältigen zu lassen. Ich atmete mehrmals tief durch und starrte auf Yaqobs Rücken, als wir die Zentralkammer betraten.
Dann nahm ich allen Mut zusammen, den ich hatte, hob den Kopf und sah mich um.
Die Kammer zur Unendlichkeit war selbst wie eine Pyramide geformt. Vier Wände strebten vom Boden schräg auf einen Zentralschacht zu, der, wie mir klar wurde, zur Spitze der Pyramide führte, wo schließlich der Schlußstein liegen würde. Das hatte Yaqob also mit der Bemerkung gemeint, die Kammer habe keine Decke. Der Boden maß ungefähr fünfzehn Schritt im Quadrat, und von seiner Mitte bis zum Scheitelpunkt der Wände waren es weitere fünfzehn. Ich betrachtete den Boden genauer. Er bestand aus einer einzigen massiven Glasplatte, und ich konnte sehen, daß darunter Platz für die später folgenden goldenen Glasnetze gelassen worden war – denn niemand konnte über diese zerbrechlichen Gebilde gehen.
Ich betrachtete die Wände. Etwa ein Fünftel davon waren mit Orteas’ und Zeldons Arbeit bedeckt, und jetzt konnte ich erkennen, daß die kleinen Tafeln, an denen sie – und seit kurzem auch ich – gearbeitet hatten, zu einer komplizierten Rechenformel aus Zahlen, Worten und geometrischen Symbolen zusammengesetzt worden waren.
Übelkeit schoß plötzlich in mir hoch, und ich glaube, ich muß sämtliche Farbe aus dem Gesicht verloren haben, denn Yaqob machte einen besorgten Schritt auf mich zu.
»Yaqob!« bellte der Magier, und ich winkte Yaqob, er solle stehenbleiben.
»Es war nur der Aufstieg… keine Luft…«
Er konnte mir die Lüge vom Gesicht ablesen, aber er wandte sich wieder Kofte zu und holte das Maßband heraus. Yaqob war einer der geschicktesten Glasschneider der Baustelle, und ich sah, daß Kofte ihn brauchte, um einige feine Verbindungsplatten aus schlichtem Goldglas auszumessen, die Verbindungen zwischen den Hauptflächen aus Glasnetzen herstellen sollten.
Während sie ausmaßen, trat ich näher an eine der fertigen Flächen heran. Ich hob die Hand und berührte sie, obwohl meine Finger so sehr zitterten, daß ich Angst hatte, das Glas womöglich zu zerbrechen.
Sofort wurde ich bis ins Mark von der Macht des Bösen getroffen. Das Glas schrie, flehte, schluchzte – gefangen in einer Welt ohne Leben, die schlimmer als der Tod war.
»Hilf uns«, rief es, »hilf uns, bitte!«
Ich rang verzweifelt nach Luft und verlor endlich das Bewußtsein.
6
Als ich wieder zu mir kam, lag mein Kopf in Yaqobs Schoß und ich hörte, wie er versuchte, sich für den Magier alle möglichen Entschuldigungen für meine Ohnmacht einfallen zu lassen.
»Sie ist jung und muß sich noch immer von der harten Reise nach Gesholme erholen, Exzellenz. Der Aufstieg in die Kammer ist für die stärksten Männer anstrengend und war zu viel für sie. Vielleicht ist es auch die Aufregung. Sie wollte die Kammer zur Unendlichkeit schon seit Wochen sehen, und jetzt wurde sie einfach überwältigt. Vielleicht hat sie ihr monatliches Übel, und…«
Die Erklärungen klangen zusehends dünner, also schlug ich die Augen auf, bevor er noch detaillierter in die Details weiblicher Schwächen vordringen konnte.
»Endlich, Tirzah. Was ist passiert?«
Aber sein Blick flehte mich an, alles andere zu sagen, als die Wahrheit.
Ich setzte mich auf. Yaqob hatte mich in den Gang vor der Kammer zur Unendlichkeit gezogen, wofür ich dankbar war. Trotzdem erreichte mich die Verzweiflung des Glases noch immer in deutlich wahrnehmbaren Wellen.
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