Die Glaszauberin pyramiden1
Kastens und hob ein großes Buch heraus.
Mir stockte der Atem, als er es herüberreichte. Es war eine wundervolle Arbeit. Eingebunden in Kalbsleder wiesen Einband und Rücken Einlegearbeiten aus Gold, Silber und Edelsteinen auf, die in Kupfer- und Golddraht und Bronzebeschlägen gefaßt waren.
Ich streckte die Hände aus und nahm das Buch entgegen.
Und ließ es beinahe fallen. Nicht nur wegen seines Gewichts, sondern weil es zu mir sprach.
Oh schönes Weib erhöre mich! Komm, fürchte mich nicht. Ich bin dein, küß mich, erhöre mich, umarme mich… umarme mich…
Ich werde nie erfahren, wie ich es schaffte, mir nichts anmerken zu lassen, denn die Stimme fuhr fort zu sprechen.
Umarme mich, laß mich dich lieben, laß mich neben dir liegen, laß mich dich lieben…
Das Buch war ein Werk großer Elementenmeister. Größer in seiner Kunst als jede andere Magie, mit der ich unter Isphets Anleitung je in Berührung gekommen war. Was ich durch die Elemente Metall und Edelstein auf dem Buch hörte, waren nicht die Stimmen der Elemente oder etwa der Soulenai, sondern… sondern die Stimme von Boaz’ Vater, seine sanfte Verführung, als er Gemahlin zu sich ins Bett gerufen hatte…
Oh schönes Weib, laß mich dich berühren, dich lieben… Oh! Du Wunderschöne!
Fragen über Boaz’ Vater und seine Beziehung zu dem Buch schossen mir durch den Kopf, raubten mir fast den Verstand.
Hatte er das Buch geschaffen? Hatte er gewußt, was das für ein Buch war? War er selbst ein Elementenmeister gewesen?
Ich blinzelte die Tränen fort, die Stimmen verstummten jetzt langsam, während das Buch in der Glut ihrer Leidenschaft pulsierte. Meine Hände zitterten, aber ich beherrschte mich und betrachtete das Buch erneut. Es war sehr alt, uralt, und es konnte unmöglich von Boaz’ Vater stammen. Vielleicht war es durch einen Handel in seinen Besitz gekommen, und er hatte gar nichts über seine Magie gewußt. Vielleicht hatte er keine Ahnung gehabt, daß das Buch die Leidenschaft ihrer Hochzeitsnacht am Leben erhalten hatte.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Wußte Boaz, worum es sich bei diesem Buch handelte?
Falls er meine Gefühle bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.
»Tirzah. Schlag das Buch auf. Bitte. In ihm steht eine Geschichte. Bitte lies sie mir vor.«
Ich schlug das Buch auf. Die Schrift war kostbar, in Scharlachrot ausgeführt und mit Gold umrahmt, auf einem glatten, zartgetönten Pergament, nicht Papyrus. Die Schriftzeichen waren ungewöhnlich, aber ich konnte sie lesen. Ich überflog den Inhalt und fragte mich, welche Geschichte Boaz vorgelesen haben wollte.
»Exzellenz, welche ist es denn?«
Und dann fand mein Blick sie, und ich hatte keinen Zweifel, welche Boaz nennen würde. Welche Geschichte ihn nie losgelassen hatte.
»Das Lied der Frösche«, flüsterte er.
19
Ich hob den Blick und sah ihn an, in der Gewißheit, daß eine stärkere Magie als das Schicksal mich nach so viel Not und Elend in diesem Augenblick zu diesem Mann geführt hatte.
War es dieses Buch?
»Wie Ihr wünscht, Exzellenz«, sagte ich, schlug die Seite auf und fing an zu lesen und zu übersetzen.
Das Lied der Frösche
Es war einmal vor langer Zeit. Eine Zeit, in der alles noch im dichten Nebel der Vorzeit lag. Eine Zeit, in der alle Menschen, alle Völker und alle Lebewesen glücklich zusammenlebten und alles miteinander teilten.
Es war dieselbe Welt, in der wir jetzt leben, aber sie war doch anders.
Der Frieden konnte nicht dauern und tat es auch nicht, denn er war so schön wie ein Traum. Und ein Traum kann niemals Wirklichkeit sein. Ein Volk wandte sich gegen ein anderes, dann schlössen sie sich zusammen, um gegen ein Drittes vorzugehen, und als fast alle ausgerottet waren, schlichen sich die wenigen Überlebenden in andere Völker ein und säten Zwietracht und Haß.
Krieg breitete sich aus mit der grausamen Unbarmherzigkeit des Bösen.
Und die Menschen lernten mit dem Krieg zu leben. Sie paßten sich ihm an. Manchmal wütete der Krieg mehr, mal wütete er weniger. Manche Völker überlebten ihn nicht, andere, die mehr Glück hatten, anpassungsfähiger, kriegerischer waren, blühten auf.
Aber unter allen Völkern gab es ein Volk, das man Soulenai nannte, und das es schwerer fand, als andere, sich an diese neue Welt, die Welt des Krieges, zu gewöhnen…
Oh, bei den Göttern. Verstohlen warf ich einen Blick auf Boaz, aber der Name schien ihm nichts zu sagen.
… Die Soulenai waren Meister
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