Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch
sondern versperrte ihm den Weg. »Was ist dein Problem, Schwesterchen?«
Sie beugte sich vor und sah ihrem Bruder ganz direkt in die schillernden grauen Augen. »Etwas stört mich an Tante Lily. Warum sollte sie so früh aufstehen, nur um ihr Motorrad im Regen in Ordnung zu bringen? Und warum ist sie ausgerechnet in der Woche, in der unsere Eltern zufällig verreist sind, hergekommen, um einen zweihundert Jahre alten Familienstreit beizulegen?«
Tymo schob Roses ausgestreckten Arm beiseite. »Du siehst ja Gespenster, Rose. Du bist nur eifersüchtig, weil du kein Motorrad hast und nicht einsachtzig groß bist und so toll aussiehst.« Rose war noch zu jung, um toll auszusehen, aber die Worte trafen sie trotzdem: Sie war sich bereits darüber im Klaren, dass sie nicht das Zeug dazu hatte, später mal toll auszusehen. Da musste Tymo sie nicht noch mit der Nase drauf stoßen.
»Ich ziehe mir mal was Anständigeres an«, verkündete Tymo und schlurfte die Treppe hinauf.
Rose seufzte. Ich bin wahrscheinlich wirklich eifersüchtig, dachte sie, eifersüchtig auf Tante Lilys ansteckendes Lachen, auf ihre umwerfenden Kleider und ihr aufregendes Leben.
Sie schleppte sich erneut durch den Kühlraum und zog den Wandbehang beiseite. Dann rüttelte sie noch mal an der Klinke der Bibliothekstür, um ganz sicher zu sein, dass sie abgeschlossen war.
Gerade, als sie die Tür des Kühlraums schließen wollte, sah sie einen kleinen schimmernden Fleck auf dem Boden. Sie bückte sich, um ihn besser betrachten zu können.
Es war eine lila Paillette – genau so eine wie die, mit denen Tante Lilys Hose verziert gewesen war.
Lily war also am Morgen im Kühlraum gewesen.
Kapitel 6
Rezept Numero eins:
Liebesmuffins
Eine Stunde später riss Rose die Tür von Tymos und Basils Zimmer auf, so dass das Schild mit der Aufschrift
Besuchszeiten
zu Boden segelte. Tymo zog gerade das weiße Laken zurück, das den Raum teilte.
»Kannst du nicht lesen? Ist es etwa schon drei Uhr nachmittags?« Er kramte in einem Haufen mit Klamotten und zog eine zerknitterte Khakihose heraus.
»Hör auf damit, Tymo!«, rief Rose. »Schau mal, was ich gerade im Kühlraum gefunden habe!« Sie hielt die lila Paillette wie einen Marienkäfer auf der Fingerspitze und streckte sie Tymo unter die Nase.
»Na und?«, meinte er gähnend.
»Na und? Das heißt, dass Tante Lily
gelauscht
hat. Als wir die Rezepte abgeschrieben haben! Ich hab dir doch gesagt, dass irgendetwas an ihr verdächtig ist!«
Tymo grunzte höhnisch. »Ist dir vielleicht nicht die Idee gekommen,
mi hermana,
dass sie einfach Milch für ihren Kaffee wollte und dass wir unsere Milch zufälligerweise in unserem Kühlraum aufbewahren wie jede andere Familie im Land ebenfalls?« Er legte die khakifarbenen Shorts auf sein Bett und versuchte die Falten mit der Handfläche glattzustreichen.
»Kaffee?«, wiederholte Rose leise. »Sie hat Kaffee getrunken?«
»Aber sicher«, sagte Tymo. Er stand auf. »Schau mal, sie hat den Becher nämlich in der Einfahrt stehen lassen.«
Rose schaute aus dem kleinen weißen Fenster über Tymos Bett in den Garten. Im Kiesbett der Einfahrt stand ein verlassener Becher mit brauner Flüssigkeit.
»Möglich«, sagte Rose. Dann schob sie die Paillette in die hintere Tasche ihrer Hose, für den Fall, dass mit Lily wirklich was nicht stimmte und sie es später der Polizei beweisen musste.
»Du bist Bäckerin, Rose«, sagte Tymo, »keine Privatdetektivin.«
»Na gut«, sagte Rose noch ein wenig schmollend. »Dann lass uns backen gehen.« Sie legte ihr marmoriertes Notizbuch aufgeschlagen auf den Boden, während Tymo sich die Khakihosen über seine Boxershorts zog. »Das Rezept für
Liebesmuffins
ist nicht so schwierig. Schau mal.« Sie deutete auf die Überschrift des Rezepts:
Muffins aus grünem Kürbis, um die mannigfaltigen Hindernisse der Liebe zu beseitigen
»Grüner Kürbis?« Tymo machte Würgegeräusche.
»Ein anderer Name für Zucchini«, sagte Rose. Dann las sie laut vor, was sie abgeschrieben hatte:
Es war im Jahr 1718 in der englischen Kleinstadt Gosling’s Wake, wo Sir Jasper Glyck zwei überaus unglückliche Seelen zusammenbrachte, den Witwer James Corinthian und die Schneiderin Petra Biddelbummel, die zu schwermütig und zu schüchtern waren, er wie sie, um sich in das glorreiche Feuer der Liebe zu stürzen. Jasper ließ eine Sondersendung dieser Kürbismuffins in die Häuser der beiden schicken. Dann postierte er sich in diskretem Abstand vor der
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