Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch
und wich zurück, denn sie hatte Angst, dass etwas Schreckliches heraussteigen könnte – vielleicht ein brüllender Geisterdämon? Ein Gespenst? Eine sprechende Fledermaus?
Aber es stieg nichts auf außer dem milden Geruch nach Chemikalien.
Rose spähte in die Flasche hinein. Sie enthielt eine dickflüssige weißliche Substanz. Sie schüttelte die Flasche, so dass ein bisschen von dem Zeug auf ihrer Handfläche landete. Wieder schnupperte sie daran – das hatte sie eindeutig schon mal gerochen, und zwar immer, wenn sie Tymo nahe genug kam, um seine Wangen riechen zu können. Es war offensichtlich: Das Elixier war in Wirklichkeit eine Aknetinktur.
So viel zu der Hexentheorie!
Ein gedämpftes
POCH - POCH !
kam aus dem vorderen Zimmer im Erdgeschoss.
Rose machte einen Satz, warf die Flasche mit der Tinktur in Tante Lilys Koffer zurück und schlich wieder die Treppe hinauf, um nachzusehen, wer oder was das Pochen verursacht hatte.
Die Küche war still und kalt im grauen Mondlicht, und Rose fühlte sich in ihrem blauen Nachthemd und den wolligen weißen Socken sehr einsam. Sie wurde immer ganz starr vor Angst, wenn sie im Dunklen allein war, deshalb blieb sie nachts lieber oben, wo immer eine Schwester oder ein Bruder oder ein Elternteil in der Nähe war. Nella schlief mit einem Nachtlicht, einem kleinen grinsenden Marienkäfer, der orange von der Wand leuchtete, und Rose war insgeheim froh, dass sie ein Zimmer mit ihrer kleinen Schwester teilte – auch wenn sie das ihren Eltern gegenüber nie zugab.
Sie erschauerte, als ihr der schlafende Zwerg in dem Glas irgendwo unter ihren Füßen einfiel, und fragte sich, ob er wohl jemals aufwachte.
Da war das Geräusch wieder: ein dreimaliges Pochen.
Rose spähte über die Kante der Schwingtür in den Verkaufsraum und sah, wie jemand verzweifelt an das Schaufenster der Bäckerei klopfte.
Tymo kam in die düstere Küche heruntergetappt. »Wer ist da draußen?«, flüsterte er. »Und warum bist du nach dem Zähneputzen wieder runtergegangen?«
»Ich – ich – ich –«, stotterte Rose, »ich wollte ein Glas Wasser.«
»Am Badezimmerbecken gibt es doch auch Wasser«, erinnerte er sie.
»Das Wasser in der Küche schmeckt besser«, sagte sie, was stimmte, aber das hatte ja nichts damit zu tun, warum sie jetzt allein in der Küche stand. Rose durfte ihren Brüdern nichts von ihrem Verdacht sagen – sie waren beide viel zu eingenommen von der wundervollen Tante Lily.
»Ist ja auch egal«, sagte er. »Ich schau mal nach, wer da an die Tür bollert.«
Rose folgte Tymo in den Verkaufsraum.
»O nein«, stöhnte Tymo. Als Rose das Licht anknipste, sah sie den Grund für sein Stöhnen: Es war die Schneiderin aus Calamity Falls, Mrs Havegood, die ganz verzweifelt an die Scheibe klopfte. Sie hatte die Augenbrauen so weit hochgezogen, dass sie aussahen, als wollten sie sich im Haaransatz verstecken. Sie trug ein schmales, rotes Kleid, das über und über mit Hühnern bedruckt war, und hielt ihre Handtasche umklammert, die so winzig war, dass höchstens ein Fingerhut hineinpasste.
»Was will die denn um
diese
Zeit?«, murmelte Tymo und öffnete die Tür.
Mrs Havegood stolperte heftig atmend herein. »Gott sei Dank, dass ihr aufgemacht habt! Ich bin völlig außer mir!« Sie sprach ein geziertes britisches Englisch. Tymo und Rose wussten beide, dass es aufgesetzt war, Mrs Havegood war in Calamity Falls geboren und aufgewachsen, aber sie wechselte den Akzent, je nachdem, in welcher ausländischen Stadt sie am längsten gelebt zu haben vorgab. In manchen Wochen war es Paris, manchmal Berlin und einmal Tokyo, da hatte sie aber ziemlich komisch geklungen. Mrs Havegoods Vergangenheit war wie ein Kaleidoskop: sehr bunt, immer wieder anders und reinste Illusion.
»Ich weiß, dass es mitten in der Nacht ist, aber ich stecke in einer Krise!«, rief sie. »Ich habe gerade herausgefunden, dass ich morgen sehr bedeutenden Besuch bekomme!«
»Wen? Den
Präsidenten
?«, fragte Tymo höhnisch. Er wusste, dass alles, was Mrs Havegood antworten würde, gelogen war.
»Und zwar aus Kambodscha! Jawohl! Woher wusstest du das?«
Tymo starrte sie verblüfft an. »Der Präsident von Kambodscha kommt morgen zum Frühstück zu Ihnen?
Hat
Kambodscha überhaupt einen Präsidenten?«
»Aber natürlich!«, erwiderte sie. »Er und einige andere
sehr bedeutende
Staatsoberhäupter kommen kurz nach dem Frühstück. Wir werden zusammen Tee trinken. Und Plätzchen essen. Ich brauche
Snickerdoodles
!
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