Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
aufgebracht, und dem Mann schien nicht zu gefallen, was sie sagte. Ein silbernes Kreuz hing an einer langen Kette bis auf ihre Brust und tanzte bei ihren Worten wild umher, bis sie es mit ihrer Rechten einfing und festhielt.
»Warum hat er Hildegard dann gehen lassen?«, fragte Emma. »Wenn sie ihm unterstellt war, hätte er es ihr doch einfach verbieten können.«
Hertl lachte. »Tja, wenn das so einfach gewesen wäre. Er hat es offensichtlich versucht, aber sie hat sich am Ende durchgesetzt. Erst etliche Jahre, nachdem sie schon längst ihr eigenes Kloster gebaut hatte und dort lebte, war der Abt bereit, die entsprechenden Urkunden zu unterschreiben.«
Emma warf einen Blick in den Garten. Nun schwieg die Ordensschwester, und der Mann sprach. Er gestikulierte nicht ganz so aufgebracht wie sie, doch auch er wirkte angespannt. Der besorgte Zug im Gesicht der Ordensfrau hatte sich verstärkt.
»Und wie hat sie das geschafft?«, fragte sie rasch und sah zu Hertl. Er war aufgestanden und trat neben sie. Nachdenklich betrachtete er die Szene im Garten.
»Das ist die Äbtissin des Klosters«, sagte er. »Schwester Lioba.«
»Ihre ehemalige Klassenkameradin?«
Hertl nickte.
»Und der Mann?«
»Er heißt Josef Windisch. Auch er ging mit uns in eine Klasse. Er ist Pfarrer geworden und macht gerade Karriere.«
»In der Kirche?«, fragte Emma skeptisch.
Hertl warf ihr einen belustigten Blick zu. Dann kehrte er zum Bett zurück und setzte sich.
»Hildegard von Bingen hat gestreikt«, nahm er unvermittelt das Gespräch wieder auf. »Vielleicht der erste Streik der Kirchengeschichte. Sie hat jedenfalls in ihrer Autobiografie geschrieben, dass ihr in einer Vision verboten wurde, auf dem Disibodenberg weiterhin über ihre Visionen zu schreiben. Sie legte sich krank vor Kummer ins Bett. Doch zuvor informierte sie noch eine adlige Gönnerin. Die hat sich wiederum beim Mainzer Bischof für sie eingesetzt, der am Ende den Abt dazu verdonnert hat, Hildegard und ihre Nonnen ziehen zu lassen. Danach wurde Hildegard wieder gesund. Sie scharte ihre Mitschwestern um sich, zog nach Bingen und baute auf dem Rupertsberg mit eigenen Händen das neue Kloster.«
»Warum ausgerechnet hier?«
Im Garten schien das Gespräch beendet zu sein. Emma glaubte eine steile Falte zwischen den Augen der Ordensschwester zu erkennen, ihre Lippen waren aufeinandergepresst, als hätte sie soeben für den Rest ihres Lebens ein Schweigegelübde abgelegt. Der Blick, den sie dem finster dreinblickenden Mann zuwarf, war alles andere als freundlich. Dann gingen beide Richtung Gebäude, bis sie schließlich aus Emmas Blickfeld verschwanden.
»Hildegard behauptete, in einer Vision hätte sie erfahren, dass das neue Kloster dort stehen sollte, wo der heilige Rupert von Bingen etliche Jahre zuvor seine Kirche gebaut hatte.«
Emma sah hinunter auf den Rhein, wo Lastkähne durch das Wasser pflügten.
»Praktischerweise ist das Rhein-Nahe-Eck ein Knotenpunkt, wo sich schon damals die Handels- und Verkehrswege kreuzten«, sagte Emma.
»So ist es«, erwiderte er. »Hier kamen Kaufleute und Gelehrte vorbei, wenn sie von Ost nach West und von Nordnach Süd reisten. Hier konnte Hildegard von Bingen leichter als auf dem Disibodenberg Besuch empfangen und auch einfacher auf Reisen gehen.«
»Eine Vision«, sagte Emma und schmunzelte. »Wie geschickt, immer zum richtigen Zeitpunkt die richtige Ansage. Sie muss ein sehr strategisch denkender Mensch gewesen sein.«
Hertl erhob sich ruckartig. Sein Gesicht wirkte verschlossen.
»Es ist doch auffallend, dass Hildegard von Bingen in den Visionen genau das sieht, was ihren eigenen Wünschen entspricht«, verteidigte sich Emma.
Er musterte sie kühl. »Oder sie hat das zu ihren Wünschen gemacht, was ihr in Visionen offenbart wurde«, erwiderte er. Dann ging er zur Tür und öffnete sie.
Emma ärgerte sich über ihr loses Mundwerk. Sie war es nicht gewohnt, mit Menschen zu sprechen, bei denen lockere Sprüche über wichtige Persönlichkeiten der Kirchengeschichte nicht gut ankamen. Ihre Eltern hatten sich keiner Religion verpflichtet gefühlt. So war sie nie getauft worden, und ihre einzigen Erfahrungen mit der Kirche beschränkten sich auf wenige Gottesdienste, die sie gemeinsam mit ihrer Großmutter besucht hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie schnell. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten oder gegenüber einer Kirchenfrau respektlos sein. Ich bin es schon von Berufs wegen gewohnt, zunächst mal alles zu
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