Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
in Zweifel gezogen. Sie klingen echt. Und ehrlich. Aus tiefstem Herzen empfunden.«
Emma spürte, dass Hertl dieser Frau mehr entgegenbrachte als Neugier. Bewunderung vielleicht. Oder sogar Verehrung.
»Hatten Sie noch nie das Gefühl, zum Beispiel beim Anblick eines Sonnenuntergangs oder einer fantastischen Aussicht, dass es etwas darüber hinaus gibt?«, fragte er und lehnte sich vor. Er hielt ihren Blick fest und schien förmlich in ihre Augen einzutauchen. »Dass es mehr gibt als ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihren Körper? Haben Sie nie diese Liebe erfahren, die sie förmlich überschwemmt und die ihre Seele nach etwas anderem suchen lässt, was es mit diesem überwältigenden Gefühl lieben kann? Einen Gott?«
»Ein Mensch würde mir schon genügen«, sagte Emmaund bereute ihren Satz im selben Moment. Doch Hertl schien die Bitterkeit zu ignorieren, die in ihrer Stimme lag.
Er erwiderte eindringlich: »Eine Liebe, die zu groß ist für einen Menschen, wie ein überdimensionierter Schuh, in den ein Menschenfuß nie passen würde. Eine Liebe, die nach etwas anderem hungert als nach einem Menschen.«
Emma starrte ihn an. Sie erschauerte und zwang sich, den Blick auf das Fenster zu richten. Wieder überkam sie beim Anblick des Rheintals ein Gefühl der Weite. Die Sonne fiel in leuchtenden Strahlen durch hoch aufgetürmte Wolken, streute sanftes Licht über die geschwungenen Hänge und legte sich wie ein goldener Schleier auf das Wasser. Ärgerlich zog Emma die Stirn in Falten und wandte sich erneut Hertl zu, der ihrem Blick gefolgt war und sie nun erwartungsvoll ansah.
»Warum hat Hildegard das Kloster Rupertsberg gegründet?«, fragte Emma. »Warum ist sie nicht auf dem Disibodenberg geblieben?«
Hertl lehnte sich zurück. Er wirkte enttäuscht.
»Sie hat 1141 begonnen zu schreiben. Etwa zehn Jahre später hat sie ihr erstes Buch beendet. Es hat den Titel ›Scivias‹, zu deutsch ›Wisse die Wege‹. Das wird als Kurzform von ›Scivias Domini – Wisse die Wege des Herrn‹ interpretiert. Doch schon vor der Veröffentlichung war Hildegard eine Berühmtheit. Viele adlige Familien haben ihre Töchter zu ihr ins Kloster gebracht, am Ende platzte der Konvent aus allen Nähten. Zu dem Zeitpunkt war sie ja immer noch dem Abt des Disibodenbergs unterstellt, des Männerklosters, zu dem sie gehörten.«
»Wieso Männerkloster? Ich dachte, es herrschte strikter Zölibat.«
»Es gab im 12. Jahrhundert viele Klagen über den Zerfall der Sitten und den sündigen Lebenswandel der Priester«,fuhr Hertl fort. »Gleichzeitig entstanden nach und nach Frauenklöster, die aus rein praktischen Gründen oft einem Männerkonvent angeschlossen wurden. Darin blieben Männer und Frauen streng getrennt. Es gab natürlich auch Doppelklöster, in denen die Trennung nur nach außen hin bestand. Aber diese Mönche und Nonnen lebten genauso jenseits der Kirchenregeln wie sündige Priester.«
Er beugte sich nach vorne. Die Intensität seines Blicks machte sie nervös. Hastig stand sie auf.
»Das führte dazu, dass im Jahr 1022 die Ehelosigkeit für Priester zur Pflicht wurde«, sprach Hertl weiter. »Auch Doppelklöster waren vielen Anfeindungen und Verdächtigungen ausgesetzt und wurden im 13. Jahrhundert ganz aufgegeben.«
»Und so hat auch Hildegard von Bingen auf dem Rupertsberg ihr eigenes Kloster gegründet.« Emma trat ans Fenster und sah hinunter auf den Rhein. Sie versuchte sich vorzustellen, was die Ordensfrau hierhergezogen hatte.
»Na ja«, sagte er zögernd, »ich glaube nicht, dass die Einhaltung des Zölibats irgendwas mit der Entscheidung Hildegards von Bingen zu tun hatte. Nach allem, was man von ihr weiß, ist es ihr auf dem Disibodenberg schlicht zu eng geworden. Vielleicht in mehrerlei Hinsicht.«
Schräg unterhalb von Emma war ein Geräusch zu hören. Es klang, als ob eine Tür geöffnet wurde. Eine Frau in schwarzen langen Gewändern und einem Schleier trat in den Garten. Ihr Gesicht war offen und freundlich, doch sie wirkte besorgt. Ihr folgte ein übergewichtiger Mann in schwarzem Anzug und hochgeschlossenem Hemd. Sein Blick war finster, und um seinen Mund lag ein unangenehmer Zug.
»Der Abt des Disibodenbergs hat sehr von der Aufmerksamkeit für die berühmte Frau profitiert und natürlich von den Schenkungen, die das Kloster wegen ihr bekommen hat«,sagte Hertl. »Er hatte nicht das geringste Interesse daran, dass sie ging.«
Emma beobachtete, wie die Frau auf den Mann einredete. Sie wirkte ziemlich
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