Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Kind ihrer Familie war und ihr Leben der Kirche widmen sollte.«
»Was hat das damit zu tun, dass sie das zehnte Kind war?«, fragte Emma verblüfft.
»Die Kirche hatte das Recht auf den Zehnten, eine Art Steuer, die Gläubige von der Ernte und anderen Erträgen abgeben mussten. Manche Familien bezogen das auch auf ihre Kinder.« Hertl sah sie abwartend an. Emma nickte.
»Später wurde Jutta von Sponheim zu ihrer Lehrmeisterin. Die beiden wurden 1112 gemeinsam mit einem weiteren Mädchen in einer Klause auf dem Disibodenberg eingemauert. Das war zu der Zeit ein Benediktinerkloster in der Nähe von Bad Sobernheim.«
»Ach wie schick«, erwiderte Emma. »Eingemauert. Keine Chance, abzuhauen.«
»Das war damals gar nicht so unüblich«, erwiderte Hertl. »Außerdem blieb das nicht so. Später ist die Klause zu einem richtigen Kloster angewachsen. Jutta von Sponheim hat es geleitet.«
»Also lebenslänglich.«
»Es war ihr Leben«, betonte Hertl. Es schien ihm ernst zu sein. »Als Jutta von Sponheim starb, ist Hildegard von Bingen zur Lehrmeisterin des Konvents gewählt worden. Das war im Jahr 1136, da war sie gerade mal 38 Jahre alt.«
»Also damals schon alles ganz demokratisch«, sagte sie.
»Ja«, sagte er spöttisch. »Das passt so gar nicht ins Feindbild, demokratische Strukturen in der Kirche.«
Ein freundliches Lächeln glitt über sein Gesicht, als wolle er seiner Stimme die Schärfe des Spotts nehmen. »Sie war die erste Frau, die öffentlich die Bibel auslegen durfte. Das war Jahrhunderte zuvor und auch Jahrhunderte danach einzigartig und skandalös. Dazu brauchte sie sogar die Erlaubnis des Papstes, da es den Frauen damals verboten war, zu predigen und zu schreiben.«
Entfernt war noch immer leiser Gesang zu hören.
»Und wie hat sie das geschafft?«, fragte Emma. Sie erinnerte sich vage, dass sie gehört hatte, Hildegard von Bingen sei vielen Feministinnen ein Vorbild.
»Sie hat sich an mehrere Kirchenoberen gewandt und um ihre Zustimmung gebeten. Später sind Teile ihres Buchs auf einem Kirchentreffen in Trier öffentlich vorgelesen worden. Das war 1147. Die hohen Herren waren so beeindruckt, dass der damalige Papst, Eugen der Dritte, ihr höchstpersönlich und ganz offiziell erlaubt hat zu schreiben.«
»Und wieso hat er das getan?«, fragte Emma interessiert.
»Weil sie nicht einfach nur notiert hat, was sie beschäftigte oder was sie in der Bibel zu lesen glaubte«, erwiderte Hertl. Sein Blick glitt an ihr ab und verlor sich im Rheintal. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit wieder zu Emma zurück. »Sie hatte Erkenntnisse in Form von Bildern, die ihr von Gott eingegeben wurden und die ihr geholfen haben, vieles von dem, was in der Bibel steht, zu verstehen. In ihren Visionen hat Gott selber sie dazu aufgefordert, alles niederzuschreiben. Der Papst hat ihr geglaubt und es deshalb für sehr wichtig gehalten, dass sie ihr Buch schreibt und darin alles festhält, was sie in ihren Visionen von Gott erfahren hat.«
»Geschickt eingefädelt von ihr«, sagte Emma, ehrlich beeindruckt. »Warum hat der Papst ihr geglaubt? Gerade ihr, einer Frau?«
»Damals war es nicht so selten, dass Prediger und Heilige Visionen hatten und anhand der Visionen erklärt haben, wie sie die Welt und auch Gott sehen«, sprach Hertl weiter. »Es gab also genug männliche Vorbilder. Das beste Beispiel ist das Evangelium des Johannes im Neuen Testament. Darin erinnern viele Stellen an das, was später Hildegard von Bingen geschrieben hat. Vielleicht hat der Papst ihr gerade deshalb geglaubt und sie unterstützt.«
Der Gesang draußen ebbte ab. Türen klappten, dann wurde es still.
»Warum Visionen? Warum damals und heute nicht mehr? War das eine Mode? Eine Zeiterscheinung?«, fragte Emma.
Hertl zuckte die Achseln.
»Bis heute wird die Geschichte des Christentums begleitet von Visionären, Männern wie Frauen«, erwiderte er. »Aber was man damals noch als von Gott gegeben verstanden hat, würde man heute nicht mehr so bezeichnen. Heute werden Visionen als Erkenntnisse interpretiert, die aus der Hinwendung zu Gott geboren werden.«
»Also sind Visionen letztlich nichts anderes als sprachliche Formeln, um der eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen. Oder der Versuch, seinen Erkenntnissen mehr Gewicht zu geben«, sagte Emma nachdenklich.
»Ihre Visionen wurden auch schon als die Folge von Migräneattacken interpretiert«, sagte Hertl und lachte. Dann wurde er wieder ernst. »Ich habe die Visionen Hildegards von Bingen nie
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